Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 8, St. 2. Berlin, 1791.
Vor kurzem ist mir noch ein ähnlicher Fall bei einer jungen aus Gram melankolischen Dame vorgekommen. Weder das dringendste Bitten, noch die heftigsten Drohungen, waren im Stande einen artikulirten Ton von ihr heraus zu bringen. Hielt man ihr aber einen Brief oder ein gedrucktes Blatt vor, und ersuchte sie, es zu lesen, so that sie es mit der größten Fertigkeit eines gesunden Menschen. Bey dieser waren die Sprachwerkzeuge im natürlichen Zustande, aber durch die brütende Aufmerksamkeit auf ihren Lieblingsgegenstand wurde wahrscheinlich die gewöhnliche Wirkung jeder andern Vorstellung so sehr geschwächt, daß sie nicht hinreichte den Willen in die Thätigkeit zu setzen, welche zum Bewegen des Nervensafts in die Sprachorgane erfordert wird. Da nun, wie ich schon erwähnt, die Vorstellungen des Sehens, wegen der anhaltenden Gegenwart ihrer Ursache, dauerhafter und stärker sind, als die des Hörens, so ergiebt sich von selbst: warum jene und nicht diese sie zum Sprechen bewegen konnten.
Vor kurzem ist mir noch ein aͤhnlicher Fall bei einer jungen aus Gram melankolischen Dame vorgekommen. Weder das dringendste Bitten, noch die heftigsten Drohungen, waren im Stande einen artikulirten Ton von ihr heraus zu bringen. Hielt man ihr aber einen Brief oder ein gedrucktes Blatt vor, und ersuchte sie, es zu lesen, so that sie es mit der groͤßten Fertigkeit eines gesunden Menschen. Bey dieser waren die Sprachwerkzeuge im natuͤrlichen Zustande, aber durch die bruͤtende Aufmerksamkeit auf ihren Lieblingsgegenstand wurde wahrscheinlich die gewoͤhnliche Wirkung jeder andern Vorstellung so sehr geschwaͤcht, daß sie nicht hinreichte den Willen in die Thaͤtigkeit zu setzen, welche zum Bewegen des Nervensafts in die Sprachorgane erfordert wird. Da nun, wie ich schon erwaͤhnt, die Vorstellungen des Sehens, wegen der anhaltenden Gegenwart ihrer Ursache, dauerhafter und staͤrker sind, als die des Hoͤrens, so ergiebt sich von selbst: warum jene und nicht diese sie zum Sprechen bewegen konnten. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0006" n="6"/><lb/> den eines <hi rendition="#b">Gehoͤrgegenstandes</hi> verlangt werden konnten.</p> <p>Vor kurzem ist mir noch ein aͤhnlicher Fall bei einer jungen aus Gram melankolischen Dame vorgekommen. Weder das dringendste Bitten, noch die heftigsten Drohungen, waren im Stande einen artikulirten Ton von ihr heraus zu bringen. </p> <p>Hielt man ihr aber einen Brief oder ein gedrucktes Blatt vor, und ersuchte sie, es zu lesen, so that sie es mit der groͤßten Fertigkeit eines gesunden Menschen. Bey dieser waren die Sprachwerkzeuge im natuͤrlichen Zustande, aber durch die bruͤtende Aufmerksamkeit auf ihren Lieblingsgegenstand wurde wahrscheinlich die gewoͤhnliche Wirkung jeder andern Vorstellung so sehr geschwaͤcht, daß sie nicht hinreichte den Willen in die Thaͤtigkeit zu setzen, welche zum Bewegen des Nervensafts in die Sprachorgane erfordert wird. Da nun, wie ich schon erwaͤhnt, die Vorstellungen des Sehens, wegen der anhaltenden Gegenwart ihrer Ursache, dauerhafter und staͤrker sind, als die des Hoͤrens, so ergiebt sich von selbst: warum jene und nicht diese sie zum Sprechen bewegen konnten. </p> <p rendition="#right"> <hi rendition="#b"> <persName ref="#ref22"><note type="editorial">Herz, Markus</note>Marcus Herz.</persName> </hi> </p><lb/> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [6/0006]
den eines Gehoͤrgegenstandes verlangt werden konnten.
Vor kurzem ist mir noch ein aͤhnlicher Fall bei einer jungen aus Gram melankolischen Dame vorgekommen. Weder das dringendste Bitten, noch die heftigsten Drohungen, waren im Stande einen artikulirten Ton von ihr heraus zu bringen.
Hielt man ihr aber einen Brief oder ein gedrucktes Blatt vor, und ersuchte sie, es zu lesen, so that sie es mit der groͤßten Fertigkeit eines gesunden Menschen. Bey dieser waren die Sprachwerkzeuge im natuͤrlichen Zustande, aber durch die bruͤtende Aufmerksamkeit auf ihren Lieblingsgegenstand wurde wahrscheinlich die gewoͤhnliche Wirkung jeder andern Vorstellung so sehr geschwaͤcht, daß sie nicht hinreichte den Willen in die Thaͤtigkeit zu setzen, welche zum Bewegen des Nervensafts in die Sprachorgane erfordert wird. Da nun, wie ich schon erwaͤhnt, die Vorstellungen des Sehens, wegen der anhaltenden Gegenwart ihrer Ursache, dauerhafter und staͤrker sind, als die des Hoͤrens, so ergiebt sich von selbst: warum jene und nicht diese sie zum Sprechen bewegen konnten.
Marcus Herz.
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Zitationshilfe: | Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 8, St. 2. Berlin, 1791, S. 6. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_erfahrungsseelenkunde0802_1791/6>, abgerufen am 07.07.2024. |