Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 8, St. 2. Berlin, 1791.Jn diesem Spiegel wird dann die Seele alles wahrnehmen, was sie aus sich formt und in sich darstellt, alle Bilder des Sehbaren, Hörbaren, Fühlbaren u.s.w. Wie schaft sich nun aber die Seele ihre Vorstellungen und Bilder? -- Wird es damit nicht eben so zugehen, als wenn das große Ganze der Natur etwas hervorbringt? -- Dieses setzet nun zusammen, es formt, die Materie, der Grundstoff ist schon in ihm, es ist ja der Grundstoff selbst. Sollte es nicht auch also mit der Seele seyn? -- Die Natur bringt aber auch nichts unmittelbar und auf einmal hervor, sondern läßt immer eins aus und nach dem andern entstehen, selbst ihr Wille scheint nicht unmittelbar da zu seyn. Sollte das nicht auch bei der Seele zutreffen? -- Dies auf die Vorstellung des Verhältnisses zweier Dinge, z.E. zweier Größen, in dem Verstande angewandt, ist es ganz natürlich, daß sie sich, verfahre sie auch noch so schnell, doch erst die beiden Dinge, die sie mit einander vergleichen will, neben einander wird vorstellen müssen, ehe sie das Verhältniß derselben gegeneinander wahrnehmen kann. Wie kann sie sich aber z.B. die Hälfte gegen das Ganze anders vorstellen, als wenn sie sich erst ein Ganzes vorstellt, und dann selbiges in zwei gleiche Theile theilet? Jn diesem Spiegel wird dann die Seele alles wahrnehmen, was sie aus sich formt und in sich darstellt, alle Bilder des Sehbaren, Hoͤrbaren, Fuͤhlbaren u.s.w. Wie schaft sich nun aber die Seele ihre Vorstellungen und Bilder? — Wird es damit nicht eben so zugehen, als wenn das große Ganze der Natur etwas hervorbringt? — Dieses setzet nun zusammen, es formt, die Materie, der Grundstoff ist schon in ihm, es ist ja der Grundstoff selbst. Sollte es nicht auch also mit der Seele seyn? — Die Natur bringt aber auch nichts unmittelbar und auf einmal hervor, sondern laͤßt immer eins aus und nach dem andern entstehen, selbst ihr Wille scheint nicht unmittelbar da zu seyn. Sollte das nicht auch bei der Seele zutreffen? — Dies auf die Vorstellung des Verhaͤltnisses zweier Dinge, z.E. zweier Groͤßen, in dem Verstande angewandt, ist es ganz natuͤrlich, daß sie sich, verfahre sie auch noch so schnell, doch erst die beiden Dinge, die sie mit einander vergleichen will, neben einander wird vorstellen muͤssen, ehe sie das Verhaͤltniß derselben gegeneinander wahrnehmen kann. Wie kann sie sich aber z.B. die Haͤlfte gegen das Ganze anders vorstellen, als wenn sie sich erst ein Ganzes vorstellt, und dann selbiges in zwei gleiche Theile theilet? <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <pb facs="#f0050" n="50"/><lb/> <p>Jn diesem Spiegel wird dann die Seele alles wahrnehmen, was sie aus sich formt und in sich darstellt, alle Bilder des Sehbaren, Hoͤrbaren, Fuͤhlbaren u.s.w. </p> <p>Wie schaft sich nun aber die Seele ihre Vorstellungen und Bilder? — Wird es damit nicht eben so zugehen, als wenn das große Ganze der Natur etwas hervorbringt? — Dieses setzet nun zusammen, es formt, die Materie, der Grundstoff ist schon in ihm, es ist ja der Grundstoff selbst. Sollte es nicht auch also mit der Seele seyn? — Die Natur bringt aber auch nichts unmittelbar und auf einmal hervor, sondern laͤßt immer eins aus und nach dem andern entstehen, selbst ihr Wille scheint nicht <hi rendition="#b">unmittelbar</hi> da zu seyn. Sollte das nicht auch bei der Seele zutreffen? — </p> <p>Dies auf die Vorstellung des Verhaͤltnisses zweier Dinge, z.E. zweier Groͤßen, in dem Verstande angewandt, ist es ganz natuͤrlich, daß sie sich, verfahre sie auch noch so schnell, doch erst die beiden Dinge, die sie mit einander vergleichen will, neben einander wird vorstellen muͤssen, ehe sie das Verhaͤltniß derselben gegeneinander wahrnehmen kann. </p> <p>Wie kann sie sich aber z.B. die Haͤlfte gegen das Ganze anders vorstellen, als wenn sie sich erst ein Ganzes vorstellt, und dann selbiges in zwei gleiche Theile theilet? </p><lb/> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [50/0050]
Jn diesem Spiegel wird dann die Seele alles wahrnehmen, was sie aus sich formt und in sich darstellt, alle Bilder des Sehbaren, Hoͤrbaren, Fuͤhlbaren u.s.w.
Wie schaft sich nun aber die Seele ihre Vorstellungen und Bilder? — Wird es damit nicht eben so zugehen, als wenn das große Ganze der Natur etwas hervorbringt? — Dieses setzet nun zusammen, es formt, die Materie, der Grundstoff ist schon in ihm, es ist ja der Grundstoff selbst. Sollte es nicht auch also mit der Seele seyn? — Die Natur bringt aber auch nichts unmittelbar und auf einmal hervor, sondern laͤßt immer eins aus und nach dem andern entstehen, selbst ihr Wille scheint nicht unmittelbar da zu seyn. Sollte das nicht auch bei der Seele zutreffen? —
Dies auf die Vorstellung des Verhaͤltnisses zweier Dinge, z.E. zweier Groͤßen, in dem Verstande angewandt, ist es ganz natuͤrlich, daß sie sich, verfahre sie auch noch so schnell, doch erst die beiden Dinge, die sie mit einander vergleichen will, neben einander wird vorstellen muͤssen, ehe sie das Verhaͤltniß derselben gegeneinander wahrnehmen kann.
Wie kann sie sich aber z.B. die Haͤlfte gegen das Ganze anders vorstellen, als wenn sie sich erst ein Ganzes vorstellt, und dann selbiges in zwei gleiche Theile theilet?
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Zitationshilfe: | Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 8, St. 2. Berlin, 1791, S. 50. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_erfahrungsseelenkunde0802_1791/50>, abgerufen am 27.07.2024. |