Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 8, St. 1. Berlin, 1791.Nun ist aber kein Sinn bei dem Traurigen geschäftiger, als der des Sehens, welcher zugleich mit der Einbildungskraft in so geheimer und enger Freundschaft steht. Der Sinn des Hörens und das Gedächtniß ist dem Traurigen vielweniger gefährlich. Die Einbildungskraft giebt uns die Sache ausgemacht in allen ihren Theilen und hingestellt in wirklich gewesene Verhältnisse und Umstände wieder; das Gedächtnis hingegen, welches eine später sich zeigende Fähigkeit ist, behält blos die willkührlichen Zeichen, die Worte, auf. Das Wort ist gleichsam das Netz, welches über die sämtlichen Theile der Vorstellung geworfen wird und sie zusammenhält; das Wort schiebt uns die Vorstellung in die Gattung und Art, selten oder niemals aber in das Jndividuelle. An dem bloßen Wort gnügt sich aber der Traurige niemals; er verindividualisirt sich alles; jeder Zug des abgeschiedenen Freundes ist lebhaft ausgemacht vor ihm. Wenn aber der Traurige weint, so wähnt er so oft, dadurch den verlornen Gegenstand noch zu ehren; und wenn er zu weinen aufgehört hat, so fühlt er sich leichter; indem also der Leidende in der Meinung steht, er leiste dem geliebten Gegenstande noch die letzte Pflicht, so weiß er nicht, daß die Natur ihn dazu zwingt, daß durch seine Thränen, die Vorstellung an den vermißten Gegenstand in Nun ist aber kein Sinn bei dem Traurigen geschaͤftiger, als der des Sehens, welcher zugleich mit der Einbildungskraft in so geheimer und enger Freundschaft steht. Der Sinn des Hoͤrens und das Gedaͤchtniß ist dem Traurigen vielweniger gefaͤhrlich. Die Einbildungskraft giebt uns die Sache ausgemacht in allen ihren Theilen und hingestellt in wirklich gewesene Verhaͤltnisse und Umstaͤnde wieder; das Gedaͤchtnis hingegen, welches eine spaͤter sich zeigende Faͤhigkeit ist, behaͤlt blos die willkuͤhrlichen Zeichen, die Worte, auf. Das Wort ist gleichsam das Netz, welches uͤber die saͤmtlichen Theile der Vorstellung geworfen wird und sie zusammenhaͤlt; das Wort schiebt uns die Vorstellung in die Gattung und Art, selten oder niemals aber in das Jndividuelle. An dem bloßen Wort gnuͤgt sich aber der Traurige niemals; er verindividualisirt sich alles; jeder Zug des abgeschiedenen Freundes ist lebhaft ausgemacht vor ihm. Wenn aber der Traurige weint, so waͤhnt er so oft, dadurch den verlornen Gegenstand noch zu ehren; und wenn er zu weinen aufgehoͤrt hat, so fuͤhlt er sich leichter; indem also der Leidende in der Meinung steht, er leiste dem geliebten Gegenstande noch die letzte Pflicht, so weiß er nicht, daß die Natur ihn dazu zwingt, daß durch seine Thraͤnen, die Vorstellung an den vermißten Gegenstand in <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <pb n="22" facs="#f0024"/><lb/> <p>Nun ist aber kein Sinn bei dem Traurigen geschaͤftiger, als der des Sehens, welcher zugleich mit der Einbildungskraft in so geheimer und enger Freundschaft steht. Der Sinn des Hoͤrens und das Gedaͤchtniß ist dem Traurigen vielweniger gefaͤhrlich. </p> <p>Die Einbildungskraft giebt uns die Sache ausgemacht in allen ihren Theilen und hingestellt in wirklich gewesene Verhaͤltnisse und Umstaͤnde wieder; das Gedaͤchtnis hingegen, welches eine spaͤter sich zeigende Faͤhigkeit ist, behaͤlt blos die willkuͤhrlichen Zeichen, die Worte, auf. </p> <p>Das Wort ist gleichsam das Netz, welches uͤber die saͤmtlichen Theile der Vorstellung geworfen wird und sie zusammenhaͤlt; das Wort schiebt uns die Vorstellung in die Gattung und Art, selten oder niemals aber in das Jndividuelle. </p> <p>An dem bloßen Wort gnuͤgt sich aber der Traurige niemals; er verindividualisirt sich alles; jeder Zug des abgeschiedenen Freundes ist lebhaft ausgemacht vor ihm. </p> <p>Wenn aber der Traurige weint, so waͤhnt er so oft, dadurch den verlornen Gegenstand noch zu ehren; und wenn er zu weinen aufgehoͤrt hat, so fuͤhlt er sich leichter; indem also der Leidende in der Meinung steht, er leiste dem geliebten Gegenstande noch die letzte Pflicht, so weiß er nicht, daß die Natur ihn dazu zwingt, daß durch seine Thraͤnen, die Vorstellung an den vermißten Gegenstand in<lb/></p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [22/0024]
Nun ist aber kein Sinn bei dem Traurigen geschaͤftiger, als der des Sehens, welcher zugleich mit der Einbildungskraft in so geheimer und enger Freundschaft steht. Der Sinn des Hoͤrens und das Gedaͤchtniß ist dem Traurigen vielweniger gefaͤhrlich.
Die Einbildungskraft giebt uns die Sache ausgemacht in allen ihren Theilen und hingestellt in wirklich gewesene Verhaͤltnisse und Umstaͤnde wieder; das Gedaͤchtnis hingegen, welches eine spaͤter sich zeigende Faͤhigkeit ist, behaͤlt blos die willkuͤhrlichen Zeichen, die Worte, auf.
Das Wort ist gleichsam das Netz, welches uͤber die saͤmtlichen Theile der Vorstellung geworfen wird und sie zusammenhaͤlt; das Wort schiebt uns die Vorstellung in die Gattung und Art, selten oder niemals aber in das Jndividuelle.
An dem bloßen Wort gnuͤgt sich aber der Traurige niemals; er verindividualisirt sich alles; jeder Zug des abgeschiedenen Freundes ist lebhaft ausgemacht vor ihm.
Wenn aber der Traurige weint, so waͤhnt er so oft, dadurch den verlornen Gegenstand noch zu ehren; und wenn er zu weinen aufgehoͤrt hat, so fuͤhlt er sich leichter; indem also der Leidende in der Meinung steht, er leiste dem geliebten Gegenstande noch die letzte Pflicht, so weiß er nicht, daß die Natur ihn dazu zwingt, daß durch seine Thraͤnen, die Vorstellung an den vermißten Gegenstand in
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Zitationshilfe: | Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 8, St. 1. Berlin, 1791, S. 22. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_erfahrungsseelenkunde0801_1791/24>, abgerufen am 02.03.2025. |