Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 7, St. 3. Berlin, 1789.
Es ist zu beklagen, daß keiner von den Bekannten dieses Unglücklichen, die genauern Umgang mit ihm hatten, seinen Gemüthszustand nach dem Vorfall mit dem Gassenpredigen mit philosophischem Geiste beobachtet hat. Mir ist es mehr als wahrscheinlich, daß nach den Predigten, die er zur Bekehrung seiner Stadt auf öffentlichen Straßen hielt, die Jmagination erschlaffte; einige Lichtblicke der Vernunft ließen ihm sehen, daß er Gespinsten von seinem eigenen Machwerk gefolgt; die Schaam gesellte sich dazu; das Gehirn war durch die wilden Ausschweifungen der Einbildungskraft gestört und unfähig zur richtigen Betrachtung gemacht worden. Das einzige, das er als unfehlbar angesehen, fiel vor ihm als ein Unding; er war zu schwach am Geiste geworden, um das Bessere zu suchen; er wußte nicht, woran er sich halten, was er glauben sollte; und so blieb ihm nichts übrig, als Verzweiflung an allem Wahren und Guten, diese brütete Anfangs im Stillen, und äußerte sich endlich auf jene schreckliche Weise. Und einem solchen schrecklichen Zustande ist jeder ausgesetzt, der mehr schwärmt als kalt denkt und ruhig untersucht; der Gott nur in geheimen Offenbarungen finden will, und dagegen versäumt, Gott zu erkennen und anzubeten in seiner herrlichen
Es ist zu beklagen, daß keiner von den Bekannten dieses Ungluͤcklichen, die genauern Umgang mit ihm hatten, seinen Gemuͤthszustand nach dem Vorfall mit dem Gassenpredigen mit philosophischem Geiste beobachtet hat. Mir ist es mehr als wahrscheinlich, daß nach den Predigten, die er zur Bekehrung seiner Stadt auf oͤffentlichen Straßen hielt, die Jmagination erschlaffte; einige Lichtblicke der Vernunft ließen ihm sehen, daß er Gespinsten von seinem eigenen Machwerk gefolgt; die Schaam gesellte sich dazu; das Gehirn war durch die wilden Ausschweifungen der Einbildungskraft gestoͤrt und unfaͤhig zur richtigen Betrachtung gemacht worden. Das einzige, das er als unfehlbar angesehen, fiel vor ihm als ein Unding; er war zu schwach am Geiste geworden, um das Bessere zu suchen; er wußte nicht, woran er sich halten, was er glauben sollte; und so blieb ihm nichts uͤbrig, als Verzweiflung an allem Wahren und Guten, diese bruͤtete Anfangs im Stillen, und aͤußerte sich endlich auf jene schreckliche Weise. Und einem solchen schrecklichen Zustande ist jeder ausgesetzt, der mehr schwaͤrmt als kalt denkt und ruhig untersucht; der Gott nur in geheimen Offenbarungen finden will, und dagegen versaͤumt, Gott zu erkennen und anzubeten in seiner herrlichen <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0023" n="23"/><lb/> sey ein Staatsgefangener, der nicht hart gehalten werden duͤrfe.«</p> <p>Es ist zu beklagen, daß keiner von den Bekannten dieses Ungluͤcklichen, die genauern Umgang mit ihm hatten, seinen Gemuͤthszustand nach dem Vorfall mit dem Gassenpredigen mit philosophischem Geiste beobachtet hat. Mir ist es mehr als wahrscheinlich, daß nach den Predigten, die er zur Bekehrung seiner Stadt auf oͤffentlichen Straßen hielt, die Jmagination erschlaffte; einige Lichtblicke der Vernunft ließen ihm sehen, daß er Gespinsten von seinem eigenen Machwerk gefolgt; die Schaam gesellte sich dazu; das Gehirn war durch die wilden Ausschweifungen der Einbildungskraft gestoͤrt und unfaͤhig zur richtigen Betrachtung gemacht worden.</p> <p>Das einzige, das er als unfehlbar angesehen, fiel vor ihm als ein Unding; er war zu schwach am Geiste geworden, um das Bessere zu suchen; er wußte nicht, woran er sich halten, was er glauben sollte; und so blieb ihm nichts uͤbrig, als Verzweiflung an allem Wahren und Guten, diese bruͤtete Anfangs im Stillen, und aͤußerte sich endlich auf jene schreckliche Weise.</p> <p>Und einem solchen schrecklichen Zustande ist jeder ausgesetzt, der mehr schwaͤrmt als kalt denkt und ruhig untersucht; der Gott nur in geheimen Offenbarungen <choice><corr>finden</corr><sic>findtn</sic></choice> will, und dagegen versaͤumt, Gott zu erkennen und anzubeten in seiner herrlichen<lb/></p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [23/0023]
sey ein Staatsgefangener, der nicht hart gehalten werden duͤrfe.«
Es ist zu beklagen, daß keiner von den Bekannten dieses Ungluͤcklichen, die genauern Umgang mit ihm hatten, seinen Gemuͤthszustand nach dem Vorfall mit dem Gassenpredigen mit philosophischem Geiste beobachtet hat. Mir ist es mehr als wahrscheinlich, daß nach den Predigten, die er zur Bekehrung seiner Stadt auf oͤffentlichen Straßen hielt, die Jmagination erschlaffte; einige Lichtblicke der Vernunft ließen ihm sehen, daß er Gespinsten von seinem eigenen Machwerk gefolgt; die Schaam gesellte sich dazu; das Gehirn war durch die wilden Ausschweifungen der Einbildungskraft gestoͤrt und unfaͤhig zur richtigen Betrachtung gemacht worden.
Das einzige, das er als unfehlbar angesehen, fiel vor ihm als ein Unding; er war zu schwach am Geiste geworden, um das Bessere zu suchen; er wußte nicht, woran er sich halten, was er glauben sollte; und so blieb ihm nichts uͤbrig, als Verzweiflung an allem Wahren und Guten, diese bruͤtete Anfangs im Stillen, und aͤußerte sich endlich auf jene schreckliche Weise.
Und einem solchen schrecklichen Zustande ist jeder ausgesetzt, der mehr schwaͤrmt als kalt denkt und ruhig untersucht; der Gott nur in geheimen Offenbarungen finden will, und dagegen versaͤumt, Gott zu erkennen und anzubeten in seiner herrlichen
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