Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 7, St. 2. Berlin, 1789.

Bild:
<< vorherige Seite


welcher nachtwandelte. Um die sonderbare Beschaffenheit dieser Krankheit kennen zu lernen, ging er alle Nächte in seine Stube, sobald der Geistliche eingeschlafen war, und beobachtete unter andern Folgendes. Der junge Mann richtete sich auf, nahm Papier und arbeitete geistliche Reden aus, die er auch zugleich aufschrieb. Wenn er eine Seite geendigt hatte, las er sie von oben bis unten noch einmahl laut her, (wenn man anders, sezt der Encyclopedist hinzu es Lesen nennen kann, da er sich seiner Augen nicht bediente.) Wenn ihm eine Stelle in seiner Ausarbeitung nicht gefiel; so strich er sie aus,und schrieb mit vieler Richtigkeit die Verbesserung darüber. Jch habe den Anfang einer Predigt gesehen, die dieser junge Geistliche im Schlaf gemacht hatte; sie schien mir sehr gut ausgearbeitet, und correct geschrieben zu seyn. Aber es fand sich eine auffallende Verbesserung darin. Er hatte an einer Stelle geschrieben: ce divin enfant. Beim Wiederdurchlesen glaubte er statt des Worts divin, adorable setzen zu müssen, deswegen strich er das erstere Wort aus, und sezte das zweite gerade drüber. Da er aber zugleich bemerkte, daß der Artikel ce nicht vor dem Wort adorable, welcher vor divin stand, stehen bleiben könne; so sezte er sehr geschikt zu dem Wörtchen ce noch ein t hinzu, so daß man nun also die Worte: cet adorable enfant laß.

Um sich zu überzeugen, ob der Nachtwandrer durchaus keinen Gebrauch von seinen Augen während


welcher nachtwandelte. Um die sonderbare Beschaffenheit dieser Krankheit kennen zu lernen, ging er alle Naͤchte in seine Stube, sobald der Geistliche eingeschlafen war, und beobachtete unter andern Folgendes. Der junge Mann richtete sich auf, nahm Papier und arbeitete geistliche Reden aus, die er auch zugleich aufschrieb. Wenn er eine Seite geendigt hatte, las er sie von oben bis unten noch einmahl laut her, (wenn man anders, sezt der Encyclopedist hinzu es Lesen nennen kann, da er sich seiner Augen nicht bediente.) Wenn ihm eine Stelle in seiner Ausarbeitung nicht gefiel; so strich er sie aus,und schrieb mit vieler Richtigkeit die Verbesserung daruͤber. Jch habe den Anfang einer Predigt gesehen, die dieser junge Geistliche im Schlaf gemacht hatte; sie schien mir sehr gut ausgearbeitet, und correct geschrieben zu seyn. Aber es fand sich eine auffallende Verbesserung darin. Er hatte an einer Stelle geschrieben: ce divin enfant. Beim Wiederdurchlesen glaubte er statt des Worts divin, adorable setzen zu muͤssen, deswegen strich er das erstere Wort aus, und sezte das zweite gerade druͤber. Da er aber zugleich bemerkte, daß der Artikel ce nicht vor dem Wort adorable, welcher vor divin stand, stehen bleiben koͤnne; so sezte er sehr geschikt zu dem Woͤrtchen ce noch ein t hinzu, so daß man nun also die Worte: cet adorable enfant laß.

Um sich zu uͤberzeugen, ob der Nachtwandrer durchaus keinen Gebrauch von seinen Augen waͤhrend

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0059" n="59"/><lb/>
welcher nachtwandelte. Um die sonderbare                         Beschaffenheit dieser Krankheit kennen zu lernen, ging er alle Na&#x0364;chte in                         seine Stube, sobald der Geistliche eingeschlafen war, und beobachtete unter                         andern Folgendes. Der junge Mann richtete sich auf, nahm Papier und                         arbeitete geistliche Reden aus, die er auch zugleich aufschrieb. Wenn er                         eine Seite geendigt hatte, las er sie von oben bis unten noch einmahl laut                         her, (wenn man anders, sezt der Encyclopedist hinzu es Lesen nennen kann, da                         er sich seiner Augen nicht bediente.) Wenn ihm eine Stelle in seiner                         Ausarbeitung nicht gefiel; so strich er sie aus,und schrieb mit vieler                         Richtigkeit die Verbesserung daru&#x0364;ber. Jch habe den Anfang einer Predigt                         gesehen, die dieser junge Geistliche im Schlaf gemacht hatte; sie schien mir                         sehr gut ausgearbeitet, und correct geschrieben zu seyn. Aber es fand sich                         eine auffallende Verbesserung darin. Er hatte an einer Stelle geschrieben: <hi rendition="#aq">ce divin enfant.</hi> Beim Wiederdurchlesen                         glaubte er statt des Worts <hi rendition="#aq">divin, adorable</hi> setzen zu mu&#x0364;ssen, deswegen strich er das erstere Wort aus, und sezte das                         zweite gerade dru&#x0364;ber. Da er aber zugleich bemerkte, daß der Artikel <hi rendition="#aq">ce</hi> nicht vor dem Wort <hi rendition="#aq">adorable,</hi> welcher vor <hi rendition="#aq">divin</hi> stand,                         stehen bleiben ko&#x0364;nne; so sezte er sehr geschikt zu dem Wo&#x0364;rtchen <hi rendition="#aq">ce</hi> noch ein <hi rendition="#aq">t</hi> hinzu,                         so daß man nun also die Worte: <hi rendition="#aq">cet adorable                             enfant</hi> laß.</p>
            <p>Um sich zu u&#x0364;berzeugen, ob der Nachtwandrer durchaus keinen Gebrauch von                         seinen Augen wa&#x0364;hrend<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[59/0059] welcher nachtwandelte. Um die sonderbare Beschaffenheit dieser Krankheit kennen zu lernen, ging er alle Naͤchte in seine Stube, sobald der Geistliche eingeschlafen war, und beobachtete unter andern Folgendes. Der junge Mann richtete sich auf, nahm Papier und arbeitete geistliche Reden aus, die er auch zugleich aufschrieb. Wenn er eine Seite geendigt hatte, las er sie von oben bis unten noch einmahl laut her, (wenn man anders, sezt der Encyclopedist hinzu es Lesen nennen kann, da er sich seiner Augen nicht bediente.) Wenn ihm eine Stelle in seiner Ausarbeitung nicht gefiel; so strich er sie aus,und schrieb mit vieler Richtigkeit die Verbesserung daruͤber. Jch habe den Anfang einer Predigt gesehen, die dieser junge Geistliche im Schlaf gemacht hatte; sie schien mir sehr gut ausgearbeitet, und correct geschrieben zu seyn. Aber es fand sich eine auffallende Verbesserung darin. Er hatte an einer Stelle geschrieben: ce divin enfant. Beim Wiederdurchlesen glaubte er statt des Worts divin, adorable setzen zu muͤssen, deswegen strich er das erstere Wort aus, und sezte das zweite gerade druͤber. Da er aber zugleich bemerkte, daß der Artikel ce nicht vor dem Wort adorable, welcher vor divin stand, stehen bleiben koͤnne; so sezte er sehr geschikt zu dem Woͤrtchen ce noch ein t hinzu, so daß man nun also die Worte: cet adorable enfant laß. Um sich zu uͤberzeugen, ob der Nachtwandrer durchaus keinen Gebrauch von seinen Augen waͤhrend

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Christof Wingertszahn, Sheila Dickson, Goethe-Museum Düsseldorf/Anton-und-Katharina-Kippenberg-Stiftung, University of Glasgow: Erstellung der Transkription nach DTA-Richtlinien (2015-06-09T11:00:00Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Matthias Boenig, Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie zu Berlin: Konvertierung nach DTA-Basisformat (2015-06-09T11:00:00Z)
UB Uni-Bielefeld: Bereitstellung der Bilddigitalisate (2015-06-09T11:00:00Z)

Weitere Informationen:

Anmerkungen zur Transkription:

  • Langes s (ſ) wird als rundes s (s) wiedergegeben.
  • Die Umlautschreibung mit ›e‹ über dem Vokal wurden übernommen.
  • Die Majuskel I/J wurde nicht nach Lautwert transkribiert.
  • Verbessert wird nur bei eindeutigen Druckfehlern. Die editorischen Eingriffe sind stets nachgewiesen.
  • Zu Moritz’ Zeit war es üblich, bei mehrzeiligen Zitaten vor jeder Zeile Anführungsstriche zu setzen. Diese wiederholten Anführungsstriche des Originals werden stillschweigend getilgt.
  • Die Druckgestalt der Vorlagen (Absätze, Überschriften, Schriftgrade etc.) wird schematisiert wiedergegeben. Der Zeilenfall wurde nicht übernommen.
  • Worteinfügungen der Herausgeber im edierten Text sowie Ergänzungen einzelner Buchstaben sind dokumentiert.
  • Die Originalseite wird als einzelne Seite in der Internetausgabe wiedergegeben. Von diesem Darstellungsprinzip wird bei langen, sich über mehr als eine Seite erstreckenden Fußnoten abgewichen. Die vollständige Fußnote erscheint in diesem Fall zusammenhängend an der ersten betreffenden Seite.
  • Die textkritischen Nachweise erfolgen in XML-Form nach dem DTABf-Schema: <choice><corr>[Verbesserung]</corr><sic>[Originaltext]</sic></choice> vorgenommen.



Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_erfahrungsseelenkunde0702_1789
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_erfahrungsseelenkunde0702_1789/59
Zitationshilfe: Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 7, St. 2. Berlin, 1789, S. 59. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_erfahrungsseelenkunde0702_1789/59>, abgerufen am 12.12.2024.