Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 7, St. 1. Berlin, 1789.
"Jn meinem eilften Jahre besuchte ich die lateinische Schule zu Utrecht, wo in der Klasse, in welcher ich saß, eine gewisse Rangordnung unter den Schülern statt fand, die sich nach dem jedesmaligen Beruf des Fleißes und der Aufmerksamkeit richtete, und sich also oft veränderte. Dasjenige, worin man wetteiferte, waren bald lateinische Exercitien, bald Lectionen zum Auswendiglernen u.s.w., und unter andern auch Fragen, welche grammaticalische Regeln oder lateinische oder griechische Phrasen betrafen, und von dem Lehrer zuerst an den obersten, und wann dieser sie nicht beantworten konnte, an den folgenden u.s.w. gethan wurden; welcher denn die Antwort wußte, wurde über denjenigen gesetzt, der sie nicht wußte. Nun träumte mir einstmals, daß ich mich in der lateinischen Klasse befand, daß der Lehrer eine Frage über den Sinn einer lateinischen Phrasis aufwarf, und daß ich grade der erste in der Reihe war, und den festesten Vorsatz bei mir empfand, diesen Platz, wo möglich, zu behaupten. Da mir aber nun die Frage wirklich vorgelegt wurde, blieb ich stumm, und zerbrach mir
»Jn meinem eilften Jahre besuchte ich die lateinische Schule zu Utrecht, wo in der Klasse, in welcher ich saß, eine gewisse Rangordnung unter den Schuͤlern statt fand, die sich nach dem jedesmaligen Beruf des Fleißes und der Aufmerksamkeit richtete, und sich also oft veraͤnderte. Dasjenige, worin man wetteiferte, waren bald lateinische Exercitien, bald Lectionen zum Auswendiglernen u.s.w., und unter andern auch Fragen, welche grammaticalische Regeln oder lateinische oder griechische Phrasen betrafen, und von dem Lehrer zuerst an den obersten, und wann dieser sie nicht beantworten konnte, an den folgenden u.s.w. gethan wurden; welcher denn die Antwort wußte, wurde uͤber denjenigen gesetzt, der sie nicht wußte. Nun traͤumte mir einstmals, daß ich mich in der lateinischen Klasse befand, daß der Lehrer eine Frage uͤber den Sinn einer lateinischen Phrasis aufwarf, und daß ich grade der erste in der Reihe war, und den festesten Vorsatz bei mir empfand, diesen Platz, wo moͤglich, zu behaupten. Da mir aber nun die Frage wirklich vorgelegt wurde, blieb ich stumm, und zerbrach mir <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0024" n="22"/><lb/> Beleuchtung verdient. Hier ist das ganze sonderbare Factum, das um so viel authentischer ist, da es der gelehrte Herr Verfasser an sich selbst beobachtet hat.</p> <p>»Jn meinem eilften Jahre besuchte ich die lateinische Schule zu Utrecht, wo in der Klasse, in welcher ich saß, eine gewisse Rangordnung unter den Schuͤlern statt fand, die sich nach dem jedesmaligen Beruf des Fleißes und der Aufmerksamkeit richtete, und sich also oft veraͤnderte.</p> <p>Dasjenige, worin man wetteiferte, waren bald lateinische Exercitien, bald Lectionen zum Auswendiglernen u.s.w., und unter andern auch Fragen, welche grammaticalische Regeln oder lateinische oder griechische Phrasen betrafen, und von dem Lehrer zuerst an den obersten, und wann dieser sie nicht beantworten konnte, an den folgenden u.s.w. gethan wurden; welcher denn die Antwort wußte, wurde uͤber denjenigen gesetzt, der sie nicht wußte.</p> <p>Nun traͤumte mir einstmals, daß ich mich in der lateinischen Klasse befand, daß der Lehrer eine Frage uͤber den Sinn einer lateinischen Phrasis aufwarf, und daß ich grade der erste in der Reihe war, und den festesten Vorsatz bei mir empfand, diesen Platz, wo moͤglich, zu behaupten.</p> <p>Da mir aber nun die Frage wirklich vorgelegt wurde, blieb ich stumm, und zerbrach mir<lb/></p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [22/0024]
Beleuchtung verdient. Hier ist das ganze sonderbare Factum, das um so viel authentischer ist, da es der gelehrte Herr Verfasser an sich selbst beobachtet hat.
»Jn meinem eilften Jahre besuchte ich die lateinische Schule zu Utrecht, wo in der Klasse, in welcher ich saß, eine gewisse Rangordnung unter den Schuͤlern statt fand, die sich nach dem jedesmaligen Beruf des Fleißes und der Aufmerksamkeit richtete, und sich also oft veraͤnderte.
Dasjenige, worin man wetteiferte, waren bald lateinische Exercitien, bald Lectionen zum Auswendiglernen u.s.w., und unter andern auch Fragen, welche grammaticalische Regeln oder lateinische oder griechische Phrasen betrafen, und von dem Lehrer zuerst an den obersten, und wann dieser sie nicht beantworten konnte, an den folgenden u.s.w. gethan wurden; welcher denn die Antwort wußte, wurde uͤber denjenigen gesetzt, der sie nicht wußte.
Nun traͤumte mir einstmals, daß ich mich in der lateinischen Klasse befand, daß der Lehrer eine Frage uͤber den Sinn einer lateinischen Phrasis aufwarf, und daß ich grade der erste in der Reihe war, und den festesten Vorsatz bei mir empfand, diesen Platz, wo moͤglich, zu behaupten.
Da mir aber nun die Frage wirklich vorgelegt wurde, blieb ich stumm, und zerbrach mir
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Zitationshilfe: | Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 7, St. 1. Berlin, 1789, S. 22. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_erfahrungsseelenkunde0701_1789/24>, abgerufen am 17.02.2025. |