Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 7, St. 1. Berlin, 1789.Ein Beispiel, welches mit vorhergehendem viel Aehnlichkeit hat, kommt im Arzt. St. 74, S. 295 ff. III. Th. vor. Neueste Ausgabe. Die Person, von welcher daselbst geredet wird, war nicht nur eine Nachtschwätzerin im höchsten Grade,sondern auch zuweilen eine Nachtwandlerin. Sobald sie des Abends nach verrichteter Arbeit zum Sitzen kam, fing sie auch schon an, einzuschlummern. Jn diesem Schlummer, der anfangs nur sehr leicht ist, beschäftigte sie sich sogleich mit ihren Freunden, und war niemals zu Hause, sondern allemal an ihrem Geburtsorte. (Weil dieß die nächste Hauptidee war, die sich ihrem Gehirn am tiefsten eingedrückt hatte, und womit sich die Erinnerungskraft ihrer Seele unstreitig am liebsten beschäftigte.) Sie fing also zu reden an. Man antwortete ihr, ließ sich mit ihr ein, und sobald dieß geschehen, hatte man ihre Vertraulichkeit vollkommen erworben. Fragen und Antworten geschahen wechselsweise. Sie drückte sich ordentlich aus, sie dachte und zwar ganz vernünftig. Sie hatte das beste Gefühl von Tugenden und Lastern*), und *) Auch hierdurch unterscheiden sich die Nachtwandrer sehr merklich von wirklich Träumenden, indem bei diesen gemeiniglich und oft auf die sonderbarste Art während des Schlafs alle moralischen Gefühle zu verlöschen scheinen, und mit größter Bereitwilligkeit allen Unterschied zwischen Tugend und Laster aufgeben. P.
Ein Beispiel, welches mit vorhergehendem viel Aehnlichkeit hat, kommt im Arzt. St. 74, S. 295 ff. III. Th. vor. Neueste Ausgabe. Die Person, von welcher daselbst geredet wird, war nicht nur eine Nachtschwaͤtzerin im hoͤchsten Grade,sondern auch zuweilen eine Nachtwandlerin. Sobald sie des Abends nach verrichteter Arbeit zum Sitzen kam, fing sie auch schon an, einzuschlummern. Jn diesem Schlummer, der anfangs nur sehr leicht ist, beschaͤftigte sie sich sogleich mit ihren Freunden, und war niemals zu Hause, sondern allemal an ihrem Geburtsorte. (Weil dieß die naͤchste Hauptidee war, die sich ihrem Gehirn am tiefsten eingedruͤckt hatte, und womit sich die Erinnerungskraft ihrer Seele unstreitig am liebsten beschaͤftigte.) Sie fing also zu reden an. Man antwortete ihr, ließ sich mit ihr ein, und sobald dieß geschehen, hatte man ihre Vertraulichkeit vollkommen erworben. Fragen und Antworten geschahen wechselsweise. Sie druͤckte sich ordentlich aus, sie dachte und zwar ganz vernuͤnftig. Sie hatte das beste Gefuͤhl von Tugenden und Lastern*), und *) Auch hierdurch unterscheiden sich die Nachtwandrer sehr merklich von wirklich Traͤumenden, indem bei diesen gemeiniglich und oft auf die sonderbarste Art waͤhrend des Schlafs alle moralischen Gefuͤhle zu verloͤschen scheinen, und mit groͤßter Bereitwilligkeit allen Unterschied zwischen Tugend und Laster aufgeben. P.
<TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <pb facs="#f0105" n="103"/><lb/> <p>Ein Beispiel, welches mit vorhergehendem viel Aehnlichkeit hat, kommt im <hi rendition="#b">Arzt.</hi> St. 74, S. 295 ff. <hi rendition="#aq">III</hi>. Th. vor. Neueste Ausgabe.</p> <p>Die Person, von welcher daselbst geredet wird, war nicht nur eine Nachtschwaͤtzerin im hoͤchsten Grade,sondern auch zuweilen eine Nachtwandlerin. Sobald sie des Abends nach verrichteter Arbeit zum Sitzen kam, fing sie auch schon an, einzuschlummern. Jn diesem Schlummer, der anfangs nur sehr leicht ist, beschaͤftigte sie sich sogleich mit ihren Freunden, und war niemals zu Hause, sondern allemal an ihrem Geburtsorte. (Weil dieß die <hi rendition="#b">naͤchste</hi> Hauptidee war, die sich ihrem Gehirn am tiefsten eingedruͤckt hatte, und womit sich die Erinnerungskraft ihrer Seele unstreitig am liebsten beschaͤftigte.) Sie fing also zu reden an. Man antwortete ihr, ließ sich mit ihr ein, und sobald dieß geschehen, hatte man ihre Vertraulichkeit vollkommen erworben. Fragen und Antworten geschahen wechselsweise. Sie druͤckte sich ordentlich aus, sie dachte und zwar ganz vernuͤnftig. Sie hatte das beste Gefuͤhl von Tugenden und Lastern*)<note place="foot"><p>*) Auch hierdurch unterscheiden sich die Nachtwandrer sehr merklich von wirklich Traͤumenden, indem bei diesen gemeiniglich und oft auf die sonderbarste Art waͤhrend des Schlafs alle moralischen Gefuͤhle zu verloͤschen scheinen, und mit groͤßter Bereitwilligkeit allen Unterschied zwischen Tugend und Laster aufgeben.</p><p rendition="#right"><hi rendition="#b">P.</hi></p></note>, und<lb/></p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [103/0105]
Ein Beispiel, welches mit vorhergehendem viel Aehnlichkeit hat, kommt im Arzt. St. 74, S. 295 ff. III. Th. vor. Neueste Ausgabe.
Die Person, von welcher daselbst geredet wird, war nicht nur eine Nachtschwaͤtzerin im hoͤchsten Grade,sondern auch zuweilen eine Nachtwandlerin. Sobald sie des Abends nach verrichteter Arbeit zum Sitzen kam, fing sie auch schon an, einzuschlummern. Jn diesem Schlummer, der anfangs nur sehr leicht ist, beschaͤftigte sie sich sogleich mit ihren Freunden, und war niemals zu Hause, sondern allemal an ihrem Geburtsorte. (Weil dieß die naͤchste Hauptidee war, die sich ihrem Gehirn am tiefsten eingedruͤckt hatte, und womit sich die Erinnerungskraft ihrer Seele unstreitig am liebsten beschaͤftigte.) Sie fing also zu reden an. Man antwortete ihr, ließ sich mit ihr ein, und sobald dieß geschehen, hatte man ihre Vertraulichkeit vollkommen erworben. Fragen und Antworten geschahen wechselsweise. Sie druͤckte sich ordentlich aus, sie dachte und zwar ganz vernuͤnftig. Sie hatte das beste Gefuͤhl von Tugenden und Lastern*) , und
*) Auch hierdurch unterscheiden sich die Nachtwandrer sehr merklich von wirklich Traͤumenden, indem bei diesen gemeiniglich und oft auf die sonderbarste Art waͤhrend des Schlafs alle moralischen Gefuͤhle zu verloͤschen scheinen, und mit groͤßter Bereitwilligkeit allen Unterschied zwischen Tugend und Laster aufgeben.
P.
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools
|
URL zu diesem Werk: | https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_erfahrungsseelenkunde0701_1789 |
URL zu dieser Seite: | https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_erfahrungsseelenkunde0701_1789/105 |
Zitationshilfe: | Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 7, St. 1. Berlin, 1789, S. 103. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_erfahrungsseelenkunde0701_1789/105>, abgerufen am 28.07.2024. |