Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 6, St. 2. Berlin, 1788.
"Um das Jahr 1534, da ich mich noch zu nichts bestimmt hatte, und meine Sachen sehr schlecht standen, sah' ich mich einst des Morgens im Traume, als ob ich am Fuße eines mir rechter Hand liegenden Berges umher lief. Zugleich erblickte ich eine ungeheure Menge Menschen von allerlei Ständen, Geschlechtern und Altern, nämlich von Weibern, Männern, Greisen, Knaben, Kindern, Armen und Reichen, die alle verschieden gekleidet waren. Jch fragte, nach welchem Ziele wir nun eigentlich alle liefen? und einer von denselben antwortete mir: zum Tode! Jch erschrack. Da ich grade den Berg zur linken Hand hatte, wand ich mich so, daß ich ihn zur rechten bekam, und fing an, die Weinreben, welche von der Stelle an, wo ich stand, bis in die Mitte des Berges mit dürren Zweigen, wie im Herbst, bedeckt und ohne Trauben waren, zu ergreifen und auf den Berg hinanzuklettern. Anfangs ging es sehr mühsam, da der Berg oder Hügel am Fuße ziemlich steil war; als ich aber die steile Stelle überstiegen hatte, wurde es mir vermöge der
»Um das Jahr 1534, da ich mich noch zu nichts bestimmt hatte, und meine Sachen sehr schlecht standen, sah' ich mich einst des Morgens im Traume, als ob ich am Fuße eines mir rechter Hand liegenden Berges umher lief. Zugleich erblickte ich eine ungeheure Menge Menschen von allerlei Staͤnden, Geschlechtern und Altern, naͤmlich von Weibern, Maͤnnern, Greisen, Knaben, Kindern, Armen und Reichen, die alle verschieden gekleidet waren. Jch fragte, nach welchem Ziele wir nun eigentlich alle liefen? und einer von denselben antwortete mir: zum Tode! Jch erschrack. Da ich grade den Berg zur linken Hand hatte, wand ich mich so, daß ich ihn zur rechten bekam, und fing an, die Weinreben, welche von der Stelle an, wo ich stand, bis in die Mitte des Berges mit duͤrren Zweigen, wie im Herbst, bedeckt und ohne Trauben waren, zu ergreifen und auf den Berg hinanzuklettern. Anfangs ging es sehr muͤhsam, da der Berg oder Huͤgel am Fuße ziemlich steil war; als ich aber die steile Stelle uͤberstiegen hatte, wurde es mir vermoͤge der <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0082" n="82"/><lb/> Traͤume gehoͤren, die nach seiner Meinung sehr richtige Vorbedeutungen seiner Schicksale gewesen sind. Wie leicht konnte sich <persName ref="#ref0040"><note type="editorial">Cardano, Girolamo</note>Cardan</persName> eine Erfuͤllung derselben ertraͤumen, da ihm unzaͤhlige Ungluͤcksfaͤlle Gelegenheit gaben, sie auf gewisse vorhergehabte Traumbilder zu appliciren!</p> <milestone rendition="#hr" unit="section"/> <p>»Um das Jahr 1534, da ich mich noch zu nichts bestimmt hatte, und meine Sachen sehr schlecht standen, sah' ich mich einst des Morgens im Traume, als ob ich am Fuße eines mir rechter Hand liegenden Berges umher lief. Zugleich erblickte ich eine ungeheure Menge Menschen von allerlei Staͤnden, Geschlechtern und Altern, naͤmlich von Weibern, Maͤnnern, Greisen, Knaben, Kindern, Armen und Reichen, die alle verschieden gekleidet <choice><corr>waren.</corr><sic>waben.</sic></choice> Jch fragte, nach welchem Ziele wir nun eigentlich alle liefen? und einer von denselben antwortete mir: <hi rendition="#b">zum Tode!</hi> Jch erschrack. Da ich grade den Berg zur linken Hand hatte, <choice><corr>wand ich</corr><sic>wand</sic></choice> mich so, daß ich ihn zur rechten bekam, und fing an, die Weinreben, welche von der Stelle an, wo ich stand, bis in die Mitte des Berges mit duͤrren Zweigen, wie im Herbst, bedeckt und ohne Trauben waren, zu ergreifen und auf den Berg hinanzuklettern. Anfangs ging es sehr muͤhsam, da der Berg oder Huͤgel am Fuße ziemlich steil war; als ich aber die steile Stelle uͤberstiegen hatte, wurde es mir vermoͤge der<lb/></p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [82/0082]
Traͤume gehoͤren, die nach seiner Meinung sehr richtige Vorbedeutungen seiner Schicksale gewesen sind. Wie leicht konnte sich Cardan eine Erfuͤllung derselben ertraͤumen, da ihm unzaͤhlige Ungluͤcksfaͤlle Gelegenheit gaben, sie auf gewisse vorhergehabte Traumbilder zu appliciren!
»Um das Jahr 1534, da ich mich noch zu nichts bestimmt hatte, und meine Sachen sehr schlecht standen, sah' ich mich einst des Morgens im Traume, als ob ich am Fuße eines mir rechter Hand liegenden Berges umher lief. Zugleich erblickte ich eine ungeheure Menge Menschen von allerlei Staͤnden, Geschlechtern und Altern, naͤmlich von Weibern, Maͤnnern, Greisen, Knaben, Kindern, Armen und Reichen, die alle verschieden gekleidet waren. Jch fragte, nach welchem Ziele wir nun eigentlich alle liefen? und einer von denselben antwortete mir: zum Tode! Jch erschrack. Da ich grade den Berg zur linken Hand hatte, wand ich mich so, daß ich ihn zur rechten bekam, und fing an, die Weinreben, welche von der Stelle an, wo ich stand, bis in die Mitte des Berges mit duͤrren Zweigen, wie im Herbst, bedeckt und ohne Trauben waren, zu ergreifen und auf den Berg hinanzuklettern. Anfangs ging es sehr muͤhsam, da der Berg oder Huͤgel am Fuße ziemlich steil war; als ich aber die steile Stelle uͤberstiegen hatte, wurde es mir vermoͤge der
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Zitationshilfe: | Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 6, St. 2. Berlin, 1788, S. 82. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_erfahrungsseelenkunde0602_1788/82>, abgerufen am 21.02.2025. |