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Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 6, St. 2. Berlin, 1788.

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Wenn auch die Sache, wie sie hier erzählt wird, buchstäblich wahr seyn sollte (so leicht auch sonst den Reisebeschreibern etwas Wunderbares und Seltsames aufgebunden wird, -- wovon fast alle Reisebeschreibungen die deutlichsten Beweise enthalten): so scheint sie doch für die Ahndungen nichts zu beweisen. Wer weiß denn erstlich gewiß, daß die Frau von aller erhitzten Einbildungskraft frei war, als sie den Traum hatte? Wer weiß, welche Bilder, Beschreibungen und Erzählungen von vergangenen Erdbeben ihr grade damals vorschwebten, als sie einschlief? Jn einem Lande, wo dergleichen schreckliche Naturphänomene öfter vorfallen, wo man die Kinder schon von Jugend auf mit Erzählung derselben unterhält, -- ist's ja wohl nichts unnatürliches, von einem Erdbeben zu träumen. Die Frau war ohnedas alt; folglich sehr wahrscheinlich von einer ängstlichen und furchtsamen Gemüthsart, und von schwachen Nerven; -- wie viele alte Weiber mögen dort von Erdbeben träumen! Also in dem Traum selbst liegt nichts ungewöhnliches, nichts unerklärbares. -- Aber sie sah alle Schrecken des nachher erfolgten Erdbebens vorher? -- Wenn sie einmal von einem Erdbeben träumte, so war es wieder sehr natürlich, daß ihr die Phantasie die Schrecken desselben vormalte; -- sie sah vermöge dieser Phantasie Häuser umstürzen, Feuer aus der Erde hervorbrechen, die See in heftige Bewegung gerathen, und was sich sonst bei einem Erdbeben


Wenn auch die Sache, wie sie hier erzaͤhlt wird, buchstaͤblich wahr seyn sollte (so leicht auch sonst den Reisebeschreibern etwas Wunderbares und Seltsames aufgebunden wird, — wovon fast alle Reisebeschreibungen die deutlichsten Beweise enthalten): so scheint sie doch fuͤr die Ahndungen nichts zu beweisen. Wer weiß denn erstlich gewiß, daß die Frau von aller erhitzten Einbildungskraft frei war, als sie den Traum hatte? Wer weiß, welche Bilder, Beschreibungen und Erzaͤhlungen von vergangenen Erdbeben ihr grade damals vorschwebten, als sie einschlief? Jn einem Lande, wo dergleichen schreckliche Naturphaͤnomene oͤfter vorfallen, wo man die Kinder schon von Jugend auf mit Erzaͤhlung derselben unterhaͤlt, — ist's ja wohl nichts unnatuͤrliches, von einem Erdbeben zu traͤumen. Die Frau war ohnedas alt; folglich sehr wahrscheinlich von einer aͤngstlichen und furchtsamen Gemuͤthsart, und von schwachen Nerven; — wie viele alte Weiber moͤgen dort von Erdbeben traͤumen! Also in dem Traum selbst liegt nichts ungewoͤhnliches, nichts unerklaͤrbares. — Aber sie sah alle Schrecken des nachher erfolgten Erdbebens vorher? — Wenn sie einmal von einem Erdbeben traͤumte, so war es wieder sehr natuͤrlich, daß ihr die Phantasie die Schrecken desselben vormalte; — sie sah vermoͤge dieser Phantasie Haͤuser umstuͤrzen, Feuer aus der Erde hervorbrechen, die See in heftige Bewegung gerathen, und was sich sonst bei einem Erdbeben

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[64/0064] Wenn auch die Sache, wie sie hier erzaͤhlt wird, buchstaͤblich wahr seyn sollte (so leicht auch sonst den Reisebeschreibern etwas Wunderbares und Seltsames aufgebunden wird, — wovon fast alle Reisebeschreibungen die deutlichsten Beweise enthalten): so scheint sie doch fuͤr die Ahndungen nichts zu beweisen. Wer weiß denn erstlich gewiß, daß die Frau von aller erhitzten Einbildungskraft frei war, als sie den Traum hatte? Wer weiß, welche Bilder, Beschreibungen und Erzaͤhlungen von vergangenen Erdbeben ihr grade damals vorschwebten, als sie einschlief? Jn einem Lande, wo dergleichen schreckliche Naturphaͤnomene oͤfter vorfallen, wo man die Kinder schon von Jugend auf mit Erzaͤhlung derselben unterhaͤlt, — ist's ja wohl nichts unnatuͤrliches, von einem Erdbeben zu traͤumen. Die Frau war ohnedas alt; folglich sehr wahrscheinlich von einer aͤngstlichen und furchtsamen Gemuͤthsart, und von schwachen Nerven; — wie viele alte Weiber moͤgen dort von Erdbeben traͤumen! Also in dem Traum selbst liegt nichts ungewoͤhnliches, nichts unerklaͤrbares. — Aber sie sah alle Schrecken des nachher erfolgten Erdbebens vorher? — Wenn sie einmal von einem Erdbeben traͤumte, so war es wieder sehr natuͤrlich, daß ihr die Phantasie die Schrecken desselben vormalte; — sie sah vermoͤge dieser Phantasie Haͤuser umstuͤrzen, Feuer aus der Erde hervorbrechen, die See in heftige Bewegung gerathen, und was sich sonst bei einem Erdbeben

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Zitationshilfe: Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 6, St. 2. Berlin, 1788, S. 64. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_erfahrungsseelenkunde0602_1788/64>, abgerufen am 27.11.2024.