Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 6, St. 2. Berlin, 1788.
Den 20ten Nov. Ein satyrisches Gesicht eines Knaben machte mir heute viel Unruhe. Jch war über den Jungen so aufgebracht, ob er mir gleich nichts zu Leide gethan hatte, daß ich hingehn und ihm sagen wollte, daß er noch am Galgen sterben würde. Den 23ten Nov. Der Grad der Sensibilite ist oft ganz erstaunlich bei mir, und meine beßten Freunde werden mir nicht selten unausstehlich. Gegen die zuvorkommendsten Beweise ihrer Liebe bin ich oft geflissentlich kalt, und erwiedre sie mit bittern Ausdrücken oder Grobheiten. Es schmerzt mich sehr, daß ich auf diese Art so manchen edeln Menschen von mir zurückgestoßen habe, und daß ich ihn jetzt nicht deswegen um Verzeihung bitten kann. Jch kann es mir selten erklären, woher jene Empfindlichkeit augenblicklich entsteht. Am öftersten scheint sie eine Folge von Mißtrauen gegen meine Nebenmenschen zu seyn, oder auch eine Einbildung,
Den 20ten Nov. Ein satyrisches Gesicht eines Knaben machte mir heute viel Unruhe. Jch war uͤber den Jungen so aufgebracht, ob er mir gleich nichts zu Leide gethan hatte, daß ich hingehn und ihm sagen wollte, daß er noch am Galgen sterben wuͤrde. Den 23ten Nov. Der Grad der Sensibilité ist oft ganz erstaunlich bei mir, und meine beßten Freunde werden mir nicht selten unausstehlich. Gegen die zuvorkommendsten Beweise ihrer Liebe bin ich oft geflissentlich kalt, und erwiedre sie mit bittern Ausdruͤcken oder Grobheiten. Es schmerzt mich sehr, daß ich auf diese Art so manchen edeln Menschen von mir zuruͤckgestoßen habe, und daß ich ihn jetzt nicht deswegen um Verzeihung bitten kann. Jch kann es mir selten erklaͤren, woher jene Empfindlichkeit augenblicklich entsteht. Am oͤftersten scheint sie eine Folge von Mißtrauen gegen meine Nebenmenschen zu seyn, oder auch eine Einbildung, <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0023" n="23"/><lb/> entwischten; — oder glaube, sie zu entdecken. Ein leiser Strich von <hi rendition="#b">Malice</hi> scheint mir auf jeder Stirn zu stehn. Jede Veraͤnderung auf dem Gesicht des andern, sie sey so klein, als sie will, setzt mich in heftige Bewegungen. Jch fuͤhle mich oft so aufgebracht, einem dummen Gesicht oder einem heimtuͤkischen, das mir wenigstens so scheint, — Ohrfeigen zu geben. Die Ueberwindung, es nicht zu thun, kostet mir die groͤßte Muͤhe. — — —</p> <p>Den 20ten Nov. Ein satyrisches Gesicht eines Knaben machte mir heute viel Unruhe. Jch war uͤber den Jungen so aufgebracht, ob er mir gleich nichts zu Leide gethan hatte, daß ich hingehn und ihm sagen wollte, daß er noch am Galgen sterben wuͤrde.</p> <p>Den 23ten Nov. Der Grad der Sensibilité ist oft ganz erstaunlich bei mir, und meine beßten Freunde werden mir nicht selten unausstehlich. Gegen die zuvorkommendsten Beweise ihrer Liebe bin ich oft <hi rendition="#b">geflissentlich</hi> kalt, und erwiedre sie mit bittern <choice><corr>Ausdruͤcken</corr><sic>Ansdruͤcken</sic></choice> oder Grobheiten. Es schmerzt mich sehr, daß ich auf diese Art so manchen edeln Menschen von mir zuruͤckgestoßen habe, und daß ich ihn jetzt nicht deswegen um Verzeihung bitten kann. Jch kann es mir selten erklaͤren, woher jene Empfindlichkeit <hi rendition="#b">augenblicklich</hi> entsteht. Am oͤftersten scheint sie eine Folge von Mißtrauen gegen meine Nebenmenschen zu seyn, oder auch eine Einbildung,<lb/></p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [23/0023]
entwischten; — oder glaube, sie zu entdecken. Ein leiser Strich von Malice scheint mir auf jeder Stirn zu stehn. Jede Veraͤnderung auf dem Gesicht des andern, sie sey so klein, als sie will, setzt mich in heftige Bewegungen. Jch fuͤhle mich oft so aufgebracht, einem dummen Gesicht oder einem heimtuͤkischen, das mir wenigstens so scheint, — Ohrfeigen zu geben. Die Ueberwindung, es nicht zu thun, kostet mir die groͤßte Muͤhe. — — —
Den 20ten Nov. Ein satyrisches Gesicht eines Knaben machte mir heute viel Unruhe. Jch war uͤber den Jungen so aufgebracht, ob er mir gleich nichts zu Leide gethan hatte, daß ich hingehn und ihm sagen wollte, daß er noch am Galgen sterben wuͤrde.
Den 23ten Nov. Der Grad der Sensibilité ist oft ganz erstaunlich bei mir, und meine beßten Freunde werden mir nicht selten unausstehlich. Gegen die zuvorkommendsten Beweise ihrer Liebe bin ich oft geflissentlich kalt, und erwiedre sie mit bittern Ausdruͤcken oder Grobheiten. Es schmerzt mich sehr, daß ich auf diese Art so manchen edeln Menschen von mir zuruͤckgestoßen habe, und daß ich ihn jetzt nicht deswegen um Verzeihung bitten kann. Jch kann es mir selten erklaͤren, woher jene Empfindlichkeit augenblicklich entsteht. Am oͤftersten scheint sie eine Folge von Mißtrauen gegen meine Nebenmenschen zu seyn, oder auch eine Einbildung,
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Zitationshilfe: | Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 6, St. 2. Berlin, 1788, S. 23. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_erfahrungsseelenkunde0602_1788/23>, abgerufen am 27.07.2024. |