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Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 5, St. 2. Berlin, 1787.

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also (ich verstehe in einem gesunden Zustande) ihre Aufmerksamkeit theilen muß, pflegt auch unsere Einbildungskraft noch in ihren Gränzen zu bleiben. Sie kann nicht nach ihren eigensinnigen Launen handeln, wenn sie zu oft, wie im Wachen, gestört wird; -- aber sie nimmt an Stärke (so wie alle Kräfte der Seele) erstaunlich zu, wenn sie allein handeln kann*).

Aus eben dieser Alleinwürksamkeit der Phantasie lassen sich nun vornehmlich die wollüstigen Bil-

*) Blinde Leute haben daher einen sehr hohen Grad von Einbildungskraft, welcher bei ihnen gleichsam den Sinn des Gesichts ersetzt. Jch ging vor einiger Zeit mit einem Musicus, der in seinem vierten Jahre durch die Blattern blind geworden war, in einem Garten spatziren. Jch fragte ihn: ob er wohl eine deutliche Vorstellung von einem Baume, seinen Früchten, von diesen und jenen Blumen habe? Jch erstaunte, wie ich ihn diese Gegenstände mit einer Richtigkeit beschreiben hörte, als ob er sie vor sich sähe. Jch habe alles, sagte er mir, von meinem dritten bis vierten Jahre so erstaunlich lebhaft in der Seele behalten, daß mir mein würkliches Gesicht selbst keine deutlichern Vorstellungen würde geben können. Welche Vorstellung, fuhr ich fort, ist Jhnen aber wohl nach Jhrem Gefühl die allerlebhafteste, die Sie in sich wahrnehmen? -- ein freundliches Lächeln verbreitete sich über sein ganzes Gesicht, er drückte mir die Hand recht innig und lebhaft, und rief laut aus: die Vorstellung eines Mädchens, -- eines Mädchens!


also (ich verstehe in einem gesunden Zustande) ihre Aufmerksamkeit theilen muß, pflegt auch unsere Einbildungskraft noch in ihren Graͤnzen zu bleiben. Sie kann nicht nach ihren eigensinnigen Launen handeln, wenn sie zu oft, wie im Wachen, gestoͤrt wird; — aber sie nimmt an Staͤrke (so wie alle Kraͤfte der Seele) erstaunlich zu, wenn sie allein handeln kann*).

Aus eben dieser Alleinwuͤrksamkeit der Phantasie lassen sich nun vornehmlich die wolluͤstigen Bil-

*) Blinde Leute haben daher einen sehr hohen Grad von Einbildungskraft, welcher bei ihnen gleichsam den Sinn des Gesichts ersetzt. Jch ging vor einiger Zeit mit einem Musicus, der in seinem vierten Jahre durch die Blattern blind geworden war, in einem Garten spatziren. Jch fragte ihn: ob er wohl eine deutliche Vorstellung von einem Baume, seinen Fruͤchten, von diesen und jenen Blumen habe? Jch erstaunte, wie ich ihn diese Gegenstaͤnde mit einer Richtigkeit beschreiben hoͤrte, als ob er sie vor sich saͤhe. Jch habe alles, sagte er mir, von meinem dritten bis vierten Jahre so erstaunlich lebhaft in der Seele behalten, daß mir mein wuͤrkliches Gesicht selbst keine deutlichern Vorstellungen wuͤrde geben koͤnnen. Welche Vorstellung, fuhr ich fort, ist Jhnen aber wohl nach Jhrem Gefuͤhl die allerlebhafteste, die Sie in sich wahrnehmen? — ein freundliches Laͤcheln verbreitete sich uͤber sein ganzes Gesicht, er druͤckte mir die Hand recht innig und lebhaft, und rief laut aus: die Vorstellung eines Maͤdchens, — eines Maͤdchens!
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[95/0095] also (ich verstehe in einem gesunden Zustande) ihre Aufmerksamkeit theilen muß, pflegt auch unsere Einbildungskraft noch in ihren Graͤnzen zu bleiben. Sie kann nicht nach ihren eigensinnigen Launen handeln, wenn sie zu oft, wie im Wachen, gestoͤrt wird; — aber sie nimmt an Staͤrke (so wie alle Kraͤfte der Seele) erstaunlich zu, wenn sie allein handeln kann*) . Aus eben dieser Alleinwuͤrksamkeit der Phantasie lassen sich nun vornehmlich die wolluͤstigen Bil- *) Blinde Leute haben daher einen sehr hohen Grad von Einbildungskraft, welcher bei ihnen gleichsam den Sinn des Gesichts ersetzt. Jch ging vor einiger Zeit mit einem Musicus, der in seinem vierten Jahre durch die Blattern blind geworden war, in einem Garten spatziren. Jch fragte ihn: ob er wohl eine deutliche Vorstellung von einem Baume, seinen Fruͤchten, von diesen und jenen Blumen habe? Jch erstaunte, wie ich ihn diese Gegenstaͤnde mit einer Richtigkeit beschreiben hoͤrte, als ob er sie vor sich saͤhe. Jch habe alles, sagte er mir, von meinem dritten bis vierten Jahre so erstaunlich lebhaft in der Seele behalten, daß mir mein wuͤrkliches Gesicht selbst keine deutlichern Vorstellungen wuͤrde geben koͤnnen. Welche Vorstellung, fuhr ich fort, ist Jhnen aber wohl nach Jhrem Gefuͤhl die allerlebhafteste, die Sie in sich wahrnehmen? — ein freundliches Laͤcheln verbreitete sich uͤber sein ganzes Gesicht, er druͤckte mir die Hand recht innig und lebhaft, und rief laut aus: die Vorstellung eines Maͤdchens, — eines Maͤdchens!

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Zitationshilfe: Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 5, St. 2. Berlin, 1787, S. 95. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_erfahrungsseelenkunde0502_1787/95>, abgerufen am 24.11.2024.