Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 5, St. 2. Berlin, 1787.
Ueberhaupt lernte nun wohl der Mensch nächst den hörbaren Gegenständen die Begriffe ausdrücken, welche ihm am allernächsten lagen, und sich auf hörbare Leidenschaften und Gemütsbewegungen bezogen, und unter diesen vornehmlich Schmerz und Freude. Jener ist gewiß einer der ersten Lehrmeister der menschlichen Seele gewesen, und sie hat ihm ohnstreitig eine große Menge von Begriffen zu verdanken, die schon durch das natürliche Aufsuchen der Mittel dagegen, durch die verschiedenen Arten des Schmerzes, und an so verschiedenen Theilen, und durch die mancherlei Leidenschaften, die er erregt, veranlaßt werden mußten. Die bloße Geberdensprache konnte bei manchen Völkern lange hinreichen, den Schmerz auszudrücken; allein bei einiger Bildung der Seele mußte sie einen Drang in sich fühlen, auf eine deutlichere Art sich Geschöpfen ausdrücken zu können, welche mit ihr sympathisirten, und dies um so viel mehr, da sich der Schmerz von Natur hörbar macht, und seine eigenen Modulationen hat. Dieses Hörbarmachen besteht anfangs freilich nur in unarticulirten Tönen, in einem thierischen Geschrei; aber der unarticulirte Ton konnte, wenn er etwa sehrauffiel, von einem
Ueberhaupt lernte nun wohl der Mensch naͤchst den hoͤrbaren Gegenstaͤnden die Begriffe ausdruͤcken, welche ihm am allernaͤchsten lagen, und sich auf hoͤrbare Leidenschaften und Gemuͤtsbewegungen bezogen, und unter diesen vornehmlich Schmerz und Freude. Jener ist gewiß einer der ersten Lehrmeister der menschlichen Seele gewesen, und sie hat ihm ohnstreitig eine große Menge von Begriffen zu verdanken, die schon durch das natuͤrliche Aufsuchen der Mittel dagegen, durch die verschiedenen Arten des Schmerzes, und an so verschiedenen Theilen, und durch die mancherlei Leidenschaften, die er erregt, veranlaßt werden mußten. Die bloße Geberdensprache konnte bei manchen Voͤlkern lange hinreichen, den Schmerz auszudruͤcken; allein bei einiger Bildung der Seele mußte sie einen Drang in sich fuͤhlen, auf eine deutlichere Art sich Geschoͤpfen ausdruͤcken zu koͤnnen, welche mit ihr sympathisirten, und dies um so viel mehr, da sich der Schmerz von Natur hoͤrbar macht, und seine eigenen Modulationen hat. Dieses Hoͤrbarmachen besteht anfangs freilich nur in unarticulirten Toͤnen, in einem thierischen Geschrei; aber der unarticulirte Ton konnte, wenn er etwa sehrauffiel, von einem <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0082" n="82"/><lb/> wuͤrde. Er wuͤrde zwar vor Schmerz <hi rendition="#b">geschrien,</hi> und aus Freude <hi rendition="#b">gelacht</hi> haben; aber er wuͤrde kein Wort aus diesen Naturaccenten gebildet haben, — am allerwenigsten fuͤr abstracte Jdeen. Die Societaͤt zwang ihm also die Sprache gleichsam auf.</p> <p>Ueberhaupt lernte nun wohl der Mensch naͤchst den hoͤrbaren Gegenstaͤnden die Begriffe ausdruͤcken, welche ihm am allernaͤchsten lagen, und sich auf <hi rendition="#b">hoͤrbare</hi> Leidenschaften und Gemuͤtsbewegungen bezogen, und unter diesen vornehmlich <hi rendition="#b">Schmerz</hi> und <hi rendition="#b">Freude.</hi> Jener ist gewiß einer der ersten Lehrmeister der menschlichen Seele gewesen, und sie hat ihm ohnstreitig eine große Menge von Begriffen zu verdanken, die schon durch das natuͤrliche Aufsuchen der Mittel dagegen, durch die verschiedenen Arten des Schmerzes, und an so verschiedenen Theilen, und durch die mancherlei Leidenschaften, die er erregt, veranlaßt werden mußten. Die bloße Geberdensprache konnte bei manchen Voͤlkern lange hinreichen, den Schmerz auszudruͤcken; allein bei <hi rendition="#b">einiger Bildung</hi> der Seele mußte sie einen <hi rendition="#b">Drang</hi> in sich fuͤhlen, auf eine <hi rendition="#b">deutlichere</hi> Art sich Geschoͤpfen ausdruͤcken zu koͤnnen, welche mit ihr sympathisirten, und dies um so viel mehr, da sich der Schmerz von Natur <hi rendition="#b">hoͤrbar</hi> macht, und seine eigenen Modulationen hat. Dieses Hoͤrbarmachen besteht anfangs freilich nur in unarticulirten Toͤnen, in einem thierischen Geschrei; aber der unarticulirte Ton konnte, wenn er etwa sehr<hi rendition="#b">auffiel,</hi> von einem<lb/></p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [82/0082]
wuͤrde. Er wuͤrde zwar vor Schmerz geschrien, und aus Freude gelacht haben; aber er wuͤrde kein Wort aus diesen Naturaccenten gebildet haben, — am allerwenigsten fuͤr abstracte Jdeen. Die Societaͤt zwang ihm also die Sprache gleichsam auf.
Ueberhaupt lernte nun wohl der Mensch naͤchst den hoͤrbaren Gegenstaͤnden die Begriffe ausdruͤcken, welche ihm am allernaͤchsten lagen, und sich auf hoͤrbare Leidenschaften und Gemuͤtsbewegungen bezogen, und unter diesen vornehmlich Schmerz und Freude. Jener ist gewiß einer der ersten Lehrmeister der menschlichen Seele gewesen, und sie hat ihm ohnstreitig eine große Menge von Begriffen zu verdanken, die schon durch das natuͤrliche Aufsuchen der Mittel dagegen, durch die verschiedenen Arten des Schmerzes, und an so verschiedenen Theilen, und durch die mancherlei Leidenschaften, die er erregt, veranlaßt werden mußten. Die bloße Geberdensprache konnte bei manchen Voͤlkern lange hinreichen, den Schmerz auszudruͤcken; allein bei einiger Bildung der Seele mußte sie einen Drang in sich fuͤhlen, auf eine deutlichere Art sich Geschoͤpfen ausdruͤcken zu koͤnnen, welche mit ihr sympathisirten, und dies um so viel mehr, da sich der Schmerz von Natur hoͤrbar macht, und seine eigenen Modulationen hat. Dieses Hoͤrbarmachen besteht anfangs freilich nur in unarticulirten Toͤnen, in einem thierischen Geschrei; aber der unarticulirte Ton konnte, wenn er etwa sehrauffiel, von einem
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Zitationshilfe: | Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 5, St. 2. Berlin, 1787, S. 82. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_erfahrungsseelenkunde0502_1787/82>, abgerufen am 16.02.2025. |