Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 5, St. 2. Berlin, 1787.
Oft denken, und es nicht einen Augenblick behalten, ist ein vergebliches, unnützes Denken. Die Seele ist in einem solchen Zustande nicht viel besser als ein Spiegel, der beständig mancherlei Bilder oder Jdeen annimmt; aber keines behält. Sie verlieren sich und verschwinden wieder, und es bleiben keine Spuren davon zurück. Der Spiegel wird durch solche Bilder niemahls vollkommner, noch die Seele durch solche Gedanken. Man wird mir vielleicht einwenden, bei einem Wachenden wären zugleich die Organe des Körpers mit beschäftigt und würden mit zu seinem Denken gebraucht, auch das Gedächtniß behielte solche Gedanken vermittelst der im Gehirn geschehenen Eindrücke, und der nach solchem Denken zurückgelassenen Spuren; allein beim
Oft denken, und es nicht einen Augenblick behalten, ist ein vergebliches, unnuͤtzes Denken. Die Seele ist in einem solchen Zustande nicht viel besser als ein Spiegel, der bestaͤndig mancherlei Bilder oder Jdeen annimmt; aber keines behaͤlt. Sie verlieren sich und verschwinden wieder, und es bleiben keine Spuren davon zuruͤck. Der Spiegel wird durch solche Bilder niemahls vollkommner, noch die Seele durch solche Gedanken. Man wird mir vielleicht einwenden, bei einem Wachenden waͤren zugleich die Organe des Koͤrpers mit beschaͤftigt und wuͤrden mit zu seinem Denken gebraucht, auch das Gedaͤchtniß behielte solche Gedanken vermittelst der im Gehirn geschehenen Eindruͤcke, und der nach solchem Denken zuruͤckgelassenen Spuren; allein beim <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0075" n="75"/><lb/> ben soll. Denn wer kann es sich ohne weiteres Bemuͤhen, und nur weil man es sagt, einbilden, daß die meisten Menschen in ihrem ganzen Leben alle Tage etliche Stunden an etwas denken, sich aber, wenn sie auch mitten unter solchen Gedanken gefragt wuͤrden, ganz und gar auf nichts besinnen koͤnnten. Jch halte dafuͤr, die meisten Menschen bringen einen großen Theil ihres Schlafs ohne Traͤume zu. Jch habe einmahl einen Mann gekannt, der sich auf die Wissenschaften legte, und eben kein schlechtes Gedaͤchtniß hatte. Dieser erzaͤhlte mir, daß er niemahls getraͤumt haͤtte, als da ihn ein Fieber befallen, und ich glaube, man wird mehr dergleichen Beispiele antreffen. — —</p> <p>Oft denken, und es nicht einen Augenblick behalten, ist ein vergebliches, unnuͤtzes Denken. Die Seele ist in einem solchen Zustande nicht viel besser als ein Spiegel, der bestaͤndig mancherlei Bilder oder Jdeen annimmt; aber keines behaͤlt. Sie verlieren sich und verschwinden wieder, und es bleiben keine Spuren davon zuruͤck. Der Spiegel wird durch solche Bilder niemahls vollkommner, noch die Seele durch solche Gedanken. Man wird mir vielleicht einwenden, bei einem Wachenden waͤren zugleich die Organe des Koͤrpers mit beschaͤftigt und wuͤrden mit zu seinem Denken gebraucht, auch das Gedaͤchtniß behielte solche Gedanken vermittelst der im Gehirn geschehenen Eindruͤcke, und der nach solchem Denken zuruͤckgelassenen Spuren; allein beim<lb/></p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [75/0075]
ben soll. Denn wer kann es sich ohne weiteres Bemuͤhen, und nur weil man es sagt, einbilden, daß die meisten Menschen in ihrem ganzen Leben alle Tage etliche Stunden an etwas denken, sich aber, wenn sie auch mitten unter solchen Gedanken gefragt wuͤrden, ganz und gar auf nichts besinnen koͤnnten. Jch halte dafuͤr, die meisten Menschen bringen einen großen Theil ihres Schlafs ohne Traͤume zu. Jch habe einmahl einen Mann gekannt, der sich auf die Wissenschaften legte, und eben kein schlechtes Gedaͤchtniß hatte. Dieser erzaͤhlte mir, daß er niemahls getraͤumt haͤtte, als da ihn ein Fieber befallen, und ich glaube, man wird mehr dergleichen Beispiele antreffen. — —
Oft denken, und es nicht einen Augenblick behalten, ist ein vergebliches, unnuͤtzes Denken. Die Seele ist in einem solchen Zustande nicht viel besser als ein Spiegel, der bestaͤndig mancherlei Bilder oder Jdeen annimmt; aber keines behaͤlt. Sie verlieren sich und verschwinden wieder, und es bleiben keine Spuren davon zuruͤck. Der Spiegel wird durch solche Bilder niemahls vollkommner, noch die Seele durch solche Gedanken. Man wird mir vielleicht einwenden, bei einem Wachenden waͤren zugleich die Organe des Koͤrpers mit beschaͤftigt und wuͤrden mit zu seinem Denken gebraucht, auch das Gedaͤchtniß behielte solche Gedanken vermittelst der im Gehirn geschehenen Eindruͤcke, und der nach solchem Denken zuruͤckgelassenen Spuren; allein beim
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Zitationshilfe: | Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 5, St. 2. Berlin, 1787, S. 75. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_erfahrungsseelenkunde0502_1787/75>, abgerufen am 22.07.2024. |