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Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 5, St. 2. Berlin, 1787.

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Wahrheit und Rechtschaffenheit zerstört; ein Wesen, das Bosheit und Gift unter das Gewand der Heuchelei verbirgt; das alles Gute, alles Streben der Seele verstimmt, den Grund legt zum verdorbensten und gemeinschädlichsten Menschen. Wo Andächtelei herrscht, ist der gesunde Menschenverstand Sünde, und der Gebrauch desselben Ketzerei; da man sie als die Grundfeste, als das Wesentliche der Religion ansieht, so macht sie den rechtschaffensten Mann, den Mann, der Wahrheit lieb hat und sichs merken läßt, zum Ketzer, zu einem Gegenstand ihres Hasses, dessen Antheil Fluch und Scheiterhaufen sind.

Jn der Schule wurde das Herz mit Jntoleranz und Aberglauben erhitzt, der Kopf mit Dummheit und Seichtheit angefüllt; wie konnten sich andere als eben diese leidige Folgen in dem Character des Jünglings anlegen? Eine besondere Etiquette war's, am letzten aus der Kirche zu gehen. Da ich einstens eine Lobrede auf den h. Aloiß hörte, so ward meine Einbildungskraft durch die ausschweifende Erhebungen der Tugenden dieses Heiligen so schwärmerisch entzündet, daß ich mir augenblicklich vornahm, ein eben so großer Heiliger zu werden, mir eben so Abbruch zu thun, mich eben so zu quälen als Aloiß, und einstens fähig zu werden, Wunder zu würken, und gewiß eben diese Gabe Wunder zu würken war mir die schmeichelhafteste Aus-


Wahrheit und Rechtschaffenheit zerstoͤrt; ein Wesen, das Bosheit und Gift unter das Gewand der Heuchelei verbirgt; das alles Gute, alles Streben der Seele verstimmt, den Grund legt zum verdorbensten und gemeinschaͤdlichsten Menschen. Wo Andaͤchtelei herrscht, ist der gesunde Menschenverstand Suͤnde, und der Gebrauch desselben Ketzerei; da man sie als die Grundfeste, als das Wesentliche der Religion ansieht, so macht sie den rechtschaffensten Mann, den Mann, der Wahrheit lieb hat und sichs merken laͤßt, zum Ketzer, zu einem Gegenstand ihres Hasses, dessen Antheil Fluch und Scheiterhaufen sind.

Jn der Schule wurde das Herz mit Jntoleranz und Aberglauben erhitzt, der Kopf mit Dummheit und Seichtheit angefuͤllt; wie konnten sich andere als eben diese leidige Folgen in dem Character des Juͤnglings anlegen? Eine besondere Etiquette war's, am letzten aus der Kirche zu gehen. Da ich einstens eine Lobrede auf den h. Aloiß hoͤrte, so ward meine Einbildungskraft durch die ausschweifende Erhebungen der Tugenden dieses Heiligen so schwaͤrmerisch entzuͤndet, daß ich mir augenblicklich vornahm, ein eben so großer Heiliger zu werden, mir eben so Abbruch zu thun, mich eben so zu quaͤlen als Aloiß, und einstens faͤhig zu werden, Wunder zu wuͤrken, und gewiß eben diese Gabe Wunder zu wuͤrken war mir die schmeichelhafteste Aus-

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[119/0119] Wahrheit und Rechtschaffenheit zerstoͤrt; ein Wesen, das Bosheit und Gift unter das Gewand der Heuchelei verbirgt; das alles Gute, alles Streben der Seele verstimmt, den Grund legt zum verdorbensten und gemeinschaͤdlichsten Menschen. Wo Andaͤchtelei herrscht, ist der gesunde Menschenverstand Suͤnde, und der Gebrauch desselben Ketzerei; da man sie als die Grundfeste, als das Wesentliche der Religion ansieht, so macht sie den rechtschaffensten Mann, den Mann, der Wahrheit lieb hat und sichs merken laͤßt, zum Ketzer, zu einem Gegenstand ihres Hasses, dessen Antheil Fluch und Scheiterhaufen sind. Jn der Schule wurde das Herz mit Jntoleranz und Aberglauben erhitzt, der Kopf mit Dummheit und Seichtheit angefuͤllt; wie konnten sich andere als eben diese leidige Folgen in dem Character des Juͤnglings anlegen? Eine besondere Etiquette war's, am letzten aus der Kirche zu gehen. Da ich einstens eine Lobrede auf den h. Aloiß hoͤrte, so ward meine Einbildungskraft durch die ausschweifende Erhebungen der Tugenden dieses Heiligen so schwaͤrmerisch entzuͤndet, daß ich mir augenblicklich vornahm, ein eben so großer Heiliger zu werden, mir eben so Abbruch zu thun, mich eben so zu quaͤlen als Aloiß, und einstens faͤhig zu werden, Wunder zu wuͤrken, und gewiß eben diese Gabe Wunder zu wuͤrken war mir die schmeichelhafteste Aus-

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Zitationshilfe: Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 5, St. 2. Berlin, 1787, S. 119. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_erfahrungsseelenkunde0502_1787/119>, abgerufen am 24.11.2024.