Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 5, St. 1. Berlin, 1787.

Bild:
<< vorherige Seite


Die D. G., ein Weib von sehr lebhaftem Geiste und ausgebildeten Verstande, kann sich keinen ihrer entfernten Freunde vorstellen, wenigstens ist nur ein äußerst dunkles Bild von ihnen in ihrer Seele vorhanden; lebhafter und viel deutlicher hingegen kann sie sich Leute vorstellen, welche ihr vollkommen gleichgültig sind, auch nur von diesen, und nicht von jenen, pflegt sie zu träumen.


Es ist uns oft im Traume schlechterdings nicht möglich eine angefangene Handlung zu Ende zu bringen, die doch sonst ohne alle Schwierigkeit zu seyn scheint. Es quält uns, daß wir zaudern müssen, wir entdecken keine Ursache davon, und doch scheinen uns, vermöge eines dunkeln Gefühls, eine Menge Hindernisse im Wege zu liegen. Man will auf die Kanzel steigen; aber in dem Augenblick sehen wir, daß wir noch keine Beinkleider anhaben; man will das vorzulesende Evangelium suchen; - allein es ist nirgends zu finden; man will ein Thema wählen - aber es will uns keins einfallen. So findet der Verliebte oft in der Gegenwart seines Mädchens unübersteigliche Hinderniße, sie zu umarmen, die ihm im Wachen nimmermehr einfallen würden. Warum scheint hier das Handlungssystem der menschlichen Seele zu stocken, einen heterogenen Gang zunehmen, warum handelt sie nicht so, wie sie auf die natürlichste Weise im Wachen



Die D. G., ein Weib von sehr lebhaftem Geiste und ausgebildeten Verstande, kann sich keinen ihrer entfernten Freunde vorstellen, wenigstens ist nur ein aͤußerst dunkles Bild von ihnen in ihrer Seele vorhanden; lebhafter und viel deutlicher hingegen kann sie sich Leute vorstellen, welche ihr vollkommen gleichguͤltig sind, auch nur von diesen, und nicht von jenen, pflegt sie zu traͤumen.


Es ist uns oft im Traume schlechterdings nicht moͤglich eine angefangene Handlung zu Ende zu bringen, die doch sonst ohne alle Schwierigkeit zu seyn scheint. Es quaͤlt uns, daß wir zaudern muͤssen, wir entdecken keine Ursache davon, und doch scheinen uns, vermoͤge eines dunkeln Gefuͤhls, eine Menge Hindernisse im Wege zu liegen. Man will auf die Kanzel steigen; aber in dem Augenblick sehen wir, daß wir noch keine Beinkleider anhaben; man will das vorzulesende Evangelium suchen; – allein es ist nirgends zu finden; man will ein Thema waͤhlen – aber es will uns keins einfallen. So findet der Verliebte oft in der Gegenwart seines Maͤdchens unuͤbersteigliche Hinderniße, sie zu umarmen, die ihm im Wachen nimmermehr einfallen wuͤrden. Warum scheint hier das Handlungssystem der menschlichen Seele zu stocken, einen heterogenen Gang zunehmen, warum handelt sie nicht so, wie sie auf die natuͤrlichste Weise im Wachen

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <pb facs="#f0074" n="72"/><lb/>
            <milestone rendition="#hr" unit="section"/>
            <p>Die D. G., ein Weib von sehr lebhaftem Geiste und ausgebildeten                   Verstande, kann sich keinen ihrer entfernten <hi rendition="#b">Freunde</hi> vorstellen, wenigstens ist nur ein a&#x0364;ußerst dunkles Bild von ihnen in ihrer Seele                   vorhanden; lebhafter und viel deutlicher hingegen kann sie sich Leute vorstellen,                   welche ihr vollkommen <hi rendition="#b">gleichgu&#x0364;ltig</hi> sind, auch nur von                   diesen, und nicht von jenen, pflegt sie zu tra&#x0364;umen.</p>
            <milestone rendition="#hr" unit="section"/>
            <p>Es ist uns oft im Traume schlechterdings nicht mo&#x0364;glich eine                   angefangene Handlung zu Ende zu bringen, die doch sonst ohne alle Schwierigkeit zu                   seyn scheint. Es qua&#x0364;lt uns, daß wir zaudern <choice><corr>mu&#x0364;ssen</corr><sic>mo&#x0364;chten [lt. Druckfehlerverz. MzE 5.3]</sic></choice>, wir entdecken                   keine Ursache davon, und doch scheinen uns, vermo&#x0364;ge eines dunkeln Gefu&#x0364;hls, eine                   Menge Hindernisse im Wege zu liegen. Man will auf die Kanzel steigen; aber in dem                   Augenblick sehen wir, daß wir noch keine Beinkleider anhaben; man will das                   vorzulesende Evangelium suchen; &#x2013; allein es ist nirgends zu finden; man will ein                   Thema wa&#x0364;hlen &#x2013; aber es will uns keins einfallen. So findet der Verliebte oft in                   der Gegenwart seines Ma&#x0364;dchens unu&#x0364;bersteigliche Hinderniße, sie zu umarmen, die ihm                   im Wachen nimmermehr einfallen wu&#x0364;rden. <hi rendition="#b">Warum</hi> scheint hier                   das Handlungssystem der menschlichen Seele zu stocken, einen heterogenen Gang                   zunehmen, warum handelt sie nicht so, wie sie auf die natu&#x0364;rlichste Weise im Wachen<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[72/0074] Die D. G., ein Weib von sehr lebhaftem Geiste und ausgebildeten Verstande, kann sich keinen ihrer entfernten Freunde vorstellen, wenigstens ist nur ein aͤußerst dunkles Bild von ihnen in ihrer Seele vorhanden; lebhafter und viel deutlicher hingegen kann sie sich Leute vorstellen, welche ihr vollkommen gleichguͤltig sind, auch nur von diesen, und nicht von jenen, pflegt sie zu traͤumen. Es ist uns oft im Traume schlechterdings nicht moͤglich eine angefangene Handlung zu Ende zu bringen, die doch sonst ohne alle Schwierigkeit zu seyn scheint. Es quaͤlt uns, daß wir zaudern muͤssen, wir entdecken keine Ursache davon, und doch scheinen uns, vermoͤge eines dunkeln Gefuͤhls, eine Menge Hindernisse im Wege zu liegen. Man will auf die Kanzel steigen; aber in dem Augenblick sehen wir, daß wir noch keine Beinkleider anhaben; man will das vorzulesende Evangelium suchen; – allein es ist nirgends zu finden; man will ein Thema waͤhlen – aber es will uns keins einfallen. So findet der Verliebte oft in der Gegenwart seines Maͤdchens unuͤbersteigliche Hinderniße, sie zu umarmen, die ihm im Wachen nimmermehr einfallen wuͤrden. Warum scheint hier das Handlungssystem der menschlichen Seele zu stocken, einen heterogenen Gang zunehmen, warum handelt sie nicht so, wie sie auf die natuͤrlichste Weise im Wachen

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Christof Wingertszahn, Sheila Dickson, Goethe-Museum Düsseldorf/Anton-und-Katharina-Kippenberg-Stiftung, University of Glasgow: Erstellung der Transkription nach DTA-Richtlinien (2015-06-09T11:00:00Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Matthias Boenig, Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie zu Berlin: Konvertierung nach DTA-Basisformat (2015-06-09T11:00:00Z)
UB Uni-Bielefeld: Bereitstellung der Bilddigitalisate (2015-06-09T11:00:00Z)

Weitere Informationen:

Anmerkungen zur Transkription:

  • Langes s (ſ) wird als rundes s (s) wiedergegeben.
  • Die Umlautschreibung mit ›e‹ über dem Vokal wurden übernommen.
  • Die Majuskel I/J wurde nicht nach Lautwert transkribiert.
  • Verbessert wird nur bei eindeutigen Druckfehlern. Die editorischen Eingriffe sind stets nachgewiesen.
  • Zu Moritz’ Zeit war es üblich, bei mehrzeiligen Zitaten vor jeder Zeile Anführungsstriche zu setzen. Diese wiederholten Anführungsstriche des Originals werden stillschweigend getilgt.
  • Die Druckgestalt der Vorlagen (Absätze, Überschriften, Schriftgrade etc.) wird schematisiert wiedergegeben. Der Zeilenfall wurde nicht übernommen.
  • Worteinfügungen der Herausgeber im edierten Text sowie Ergänzungen einzelner Buchstaben sind dokumentiert.
  • Die Originalseite wird als einzelne Seite in der Internetausgabe wiedergegeben. Von diesem Darstellungsprinzip wird bei langen, sich über mehr als eine Seite erstreckenden Fußnoten abgewichen. Die vollständige Fußnote erscheint in diesem Fall zusammenhängend an der ersten betreffenden Seite.
  • Die textkritischen Nachweise erfolgen in XML-Form nach dem DTABf-Schema: <choice><corr>[Verbesserung]</corr><sic>[Originaltext]</sic></choice> vorgenommen.



Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_erfahrungsseelenkunde0501_1787
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_erfahrungsseelenkunde0501_1787/74
Zitationshilfe: Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 5, St. 1. Berlin, 1787, S. 72. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_erfahrungsseelenkunde0501_1787/74>, abgerufen am 25.11.2024.