Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 5, St. 1. Berlin, 1787.5. Fortsetzung der Fragmente aus dem Tagebuche des verstorbenen R... ![]() (S. Moritz Magaz. 4ter B. 3tes St. S. 33, fgg.) Daß ich von einem Laster zurückkam, welches meinen Körper sowohl als meinen Geist zerrüttete, dies hatte ich großentheils meiner erlangten bessern Einsicht von der Natur und Folgen des Lasters und aufgeklärtern Begriffen von Tugend und Religion zu verdanken. Doch kann ich nicht läugnen, daß hiezu auch Liebe zu einem Mädchen das Jhre beitrug. Jn meiner Nachbarschaft wohnte ein Mädchen, das ich öfters zu sehen Gelegenheit hatte, und das mich Neuling in der Liebe durch ihre Reitze ganz einnahm. Jch hatte sie nie gesprochen, aber ihre sanften Züge schienen mir Unschuld der Sitten, zartes Gefühl für Tugend, Sanftmuth der Seele zu verrathen. Jch schuf mir nach meinem Gutbefinden, und so wie es mein Jnteresse foderte, ein Jdeal meiner Einbildungskraft, und diesem gab ich des Mädchens Namen. So oft ich bei ihrem Hause vorüberging, machte ich, wenn sie am Fenster stand, eine Verbeugung, und wenn sie diese etwas höflich erwiederte, glaubte ich schon darin ihre Liebe, ihre Sympathie mit mir, ihr Schmachten nach mir zu lesen. Kurz, ich bildete mir ein, ihr Herz müßte gerade so stark für mich, als das meinige für sie, schlagen. 5. Fortsetzung der Fragmente aus dem Tagebuche des verstorbenen R... ![]() (S. Moritz Magaz. 4ter B. 3tes St. S. 33, fgg.) Daß ich von einem Laster zuruͤckkam, welches meinen Koͤrper sowohl als meinen Geist zerruͤttete, dies hatte ich großentheils meiner erlangten bessern Einsicht von der Natur und Folgen des Lasters und aufgeklaͤrtern Begriffen von Tugend und Religion zu verdanken. Doch kann ich nicht laͤugnen, daß hiezu auch Liebe zu einem Maͤdchen das Jhre beitrug. Jn meiner Nachbarschaft wohnte ein Maͤdchen, das ich oͤfters zu sehen Gelegenheit hatte, und das mich Neuling in der Liebe durch ihre Reitze ganz einnahm. Jch hatte sie nie gesprochen, aber ihre sanften Zuͤge schienen mir Unschuld der Sitten, zartes Gefuͤhl fuͤr Tugend, Sanftmuth der Seele zu verrathen. Jch schuf mir nach meinem Gutbefinden, und so wie es mein Jnteresse foderte, ein Jdeal meiner Einbildungskraft, und diesem gab ich des Maͤdchens Namen. So oft ich bei ihrem Hause voruͤberging, machte ich, wenn sie am Fenster stand, eine Verbeugung, und wenn sie diese etwas hoͤflich erwiederte, glaubte ich schon darin ihre Liebe, ihre Sympathie mit mir, ihr Schmachten nach mir zu lesen. Kurz, ich bildete mir ein, ihr Herz muͤßte gerade so stark fuͤr mich, als das meinige fuͤr sie, schlagen. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <pb facs="#f0067" n="65"/><lb/><lb/> </div> <div n="3"> <head>5. Fortsetzung der Fragmente aus dem Tagebuche des verstorbenen R...</head><lb/> <note type="editorial"> <bibl> <persName ref="#ref96"><note type="editorial"/>R***</persName> </bibl> </note> <head>(S. Moritz Magaz. 4ter B. 3tes St. S. 33, fgg.)</head><lb/> <p>Daß ich von einem Laster zuruͤckkam, welches meinen Koͤrper sowohl als meinen Geist zerruͤttete, dies hatte ich großentheils meiner <choice><corr>erlangten</corr><sic>verlangten</sic></choice> bessern Einsicht von der Natur und Folgen des Lasters und aufgeklaͤrtern Begriffen von Tugend und Religion zu verdanken. Doch kann ich nicht laͤugnen, daß hiezu auch Liebe zu einem Maͤdchen das Jhre beitrug. Jn meiner Nachbarschaft wohnte ein Maͤdchen, das ich oͤfters zu sehen Gelegenheit hatte, und das mich Neuling in der Liebe durch ihre Reitze ganz einnahm. Jch hatte sie nie gesprochen, aber ihre sanften Zuͤge schienen mir Unschuld der Sitten, zartes Gefuͤhl fuͤr Tugend, Sanftmuth der Seele zu verrathen. Jch schuf mir nach meinem Gutbefinden, und so wie es mein Jnteresse foderte, ein Jdeal meiner Einbildungskraft, und diesem gab ich des Maͤdchens Namen. So oft ich bei <choice><corr>ihrem</corr><sic>Jhrem</sic></choice> Hause voruͤberging, machte ich, wenn sie am Fenster stand, eine Verbeugung, und wenn sie diese etwas hoͤflich erwiederte, glaubte ich schon darin ihre Liebe, ihre Sympathie mit mir, ihr Schmachten nach mir zu lesen. Kurz, ich bildete mir ein, ihr Herz muͤßte gerade so stark fuͤr mich, als das meinige fuͤr sie, schlagen.<lb/></p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [65/0067]
5. Fortsetzung der Fragmente aus dem Tagebuche des verstorbenen R...
(S. Moritz Magaz. 4ter B. 3tes St. S. 33, fgg.)
Daß ich von einem Laster zuruͤckkam, welches meinen Koͤrper sowohl als meinen Geist zerruͤttete, dies hatte ich großentheils meiner erlangten bessern Einsicht von der Natur und Folgen des Lasters und aufgeklaͤrtern Begriffen von Tugend und Religion zu verdanken. Doch kann ich nicht laͤugnen, daß hiezu auch Liebe zu einem Maͤdchen das Jhre beitrug. Jn meiner Nachbarschaft wohnte ein Maͤdchen, das ich oͤfters zu sehen Gelegenheit hatte, und das mich Neuling in der Liebe durch ihre Reitze ganz einnahm. Jch hatte sie nie gesprochen, aber ihre sanften Zuͤge schienen mir Unschuld der Sitten, zartes Gefuͤhl fuͤr Tugend, Sanftmuth der Seele zu verrathen. Jch schuf mir nach meinem Gutbefinden, und so wie es mein Jnteresse foderte, ein Jdeal meiner Einbildungskraft, und diesem gab ich des Maͤdchens Namen. So oft ich bei ihrem Hause voruͤberging, machte ich, wenn sie am Fenster stand, eine Verbeugung, und wenn sie diese etwas hoͤflich erwiederte, glaubte ich schon darin ihre Liebe, ihre Sympathie mit mir, ihr Schmachten nach mir zu lesen. Kurz, ich bildete mir ein, ihr Herz muͤßte gerade so stark fuͤr mich, als das meinige fuͤr sie, schlagen.
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Zitationshilfe: | Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 5, St. 1. Berlin, 1787, S. 65. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_erfahrungsseelenkunde0501_1787/67>, abgerufen am 19.07.2024. |