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Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 5, St. 1. Berlin, 1787.

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so unvermuthet, und so lebhaftig diese Jdee und Einbildung war, so tief schnitte sie in das Gehirne ein, und legte einen Grund zu dem Gedanken und zu der Furcht, das zu thun, wofür ich doch den größten Abscheu hatte, mit der ich hernach lange Zeit bin geplagt worden. Je mehr ich vor diesem selbstmördrischen Bilde erschrack, je tiefer imprimirte es sich, und je öfter mußte es mir natürlicherweise wieder einfallen. Doch blieb es nicht blos bei dieser Gattung und Specie; sondern ich wurde eben so stark hernach mit den Jdeen von stürzen, ersäufen und hängen gemartert, wobei ich am Leibe abzehrte, und ganz zu verdorren anfing. Jmmer war eine unaussprechliche Furcht da, daß dergleichen noch geschehen möchte, und durch diese Furcht aus Aberglauben entstand die festeste Einbildung, daß es noch geschehen und dazu kommen werde. Man hat keine Lust und Reitzung dazu, wie einer, der zum Stehlen oder zum Ehebruch gereitzt wird, und solches zu begehen Lust bekommt; sondern man hat die größte Furcht und Abscheu vor der Sünde des Selbstmordes, und gäbe die ganze Welt darum, um nur versichert zu werden, daß solches nicht geschehen würde*). - Doch das war noch nicht alles. Zu

*) Es ist aus unzähligen Erfahrungen bewiesen, daß wir in gewißen Gemüthszuständen eine Sache sehr verabscheuen, und sie doch zu gleicher Zeit begehren können; Erfahrungen, welche dem psychologischen Satze eben nicht günstig sind: daß wir nur das begehrten, was wir für gut, vollkommen oder angenehm hielten. Der menschliche Wille wird offenbar nicht immer nach den Schlüssen der Vernunft von der Vollkommenheit oder Unvollkommenheit einer Sache; sondern sehr oft von dunkeln Jnstincten, von Ueberraschungen unserer Leidenschaften, von unwillkürlichen Bildern der Phantasie bestimmt, ohne alle vorhergegangene Ueberlegung und Reflexion. Die Neigung zum Selbstmord, wenn auch die Seele auf der einen Seite den größten Abscheu dagegen vermöge gewisser Vernunftgründe haben kann, wird mir vornehmlich durch ein inneres Bestreben der Seele nach Freiheit, nach Entfernung der Lasten, die uns drücken, wogegen die Vernichtung unserer Existenz das beste Mittel zu seyn scheint, sehr erklärbar. Der Hypochondrist fühlt, daß er im höchsten Grade unglücklich ist, alle Bilder, die sich seine Seele schafft, sind fürchterlich und schwarz, er denkt nur, um sich zu quälen, er wünscht lieber, einige Augenblicke nicht zu existiren, und wie leicht ist die Neigung erweckt, sich auf einmahl von allen Uebeln zu befreien. Ganz natürlich stellt ihm seine Vernunft den Selbstmord als etwas Abscheuliches vor, seine Liebe zum Leben, die nie in einem vernünftigen Wesen ganz verlöscht, spricht auch wenigstens dunkel dazwischen; - er findet seine mörderischen Gedanken verachtungswürdig; aber er kann nicht Herr über sie werden, denn sein Freiheitstrieb, sein Wunsch, sein Sehnen nach Ruhe ist stärker als seine Vernunft, und aus diesem abwechselnden Zustande muß nothwendig eine solche Gemüthslage entstehen, wie sie uns der unglückliche Verfasser geschildert hat, und mit welcher die Einbildung: du wirst dich gewiß noch einmahl umbringen, natürlich verbunden ist. P.


so unvermuthet, und so lebhaftig diese Jdee und Einbildung war, so tief schnitte sie in das Gehirne ein, und legte einen Grund zu dem Gedanken und zu der Furcht, das zu thun, wofuͤr ich doch den groͤßten Abscheu hatte, mit der ich hernach lange Zeit bin geplagt worden. Je mehr ich vor diesem selbstmoͤrdrischen Bilde erschrack, je tiefer imprimirte es sich, und je oͤfter mußte es mir natuͤrlicherweise wieder einfallen. Doch blieb es nicht blos bei dieser Gattung und Specie; sondern ich wurde eben so stark hernach mit den Jdeen von stuͤrzen, ersaͤufen und haͤngen gemartert, wobei ich am Leibe abzehrte, und ganz zu verdorren anfing. Jmmer war eine unaussprechliche Furcht da, daß dergleichen noch geschehen moͤchte, und durch diese Furcht aus Aberglauben entstand die festeste Einbildung, daß es noch geschehen und dazu kommen werde. Man hat keine Lust und Reitzung dazu, wie einer, der zum Stehlen oder zum Ehebruch gereitzt wird, und solches zu begehen Lust bekommt; sondern man hat die groͤßte Furcht und Abscheu vor der Suͤnde des Selbstmordes, und gaͤbe die ganze Welt darum, um nur versichert zu werden, daß solches nicht geschehen wuͤrde*). – Doch das war noch nicht alles. Zu

*) Es ist aus unzaͤhligen Erfahrungen bewiesen, daß wir in gewißen Gemuͤthszustaͤnden eine Sache sehr verabscheuen, und sie doch zu gleicher Zeit begehren koͤnnen; Erfahrungen, welche dem psychologischen Satze eben nicht guͤnstig sind: daß wir nur das begehrten, was wir fuͤr gut, vollkommen oder angenehm hielten. Der menschliche Wille wird offenbar nicht immer nach den Schluͤssen der Vernunft von der Vollkommenheit oder Unvollkommenheit einer Sache; sondern sehr oft von dunkeln Jnstincten, von Ueberraschungen unserer Leidenschaften, von unwillkuͤrlichen Bildern der Phantasie bestimmt, ohne alle vorhergegangene Ueberlegung und Reflexion. Die Neigung zum Selbstmord, wenn auch die Seele auf der einen Seite den groͤßten Abscheu dagegen vermoͤge gewisser Vernunftgruͤnde haben kann, wird mir vornehmlich durch ein inneres Bestreben der Seele nach Freiheit, nach Entfernung der Lasten, die uns druͤcken, wogegen die Vernichtung unserer Existenz das beste Mittel zu seyn scheint, sehr erklaͤrbar. Der Hypochondrist fuͤhlt, daß er im hoͤchsten Grade ungluͤcklich ist, alle Bilder, die sich seine Seele schafft, sind fuͤrchterlich und schwarz, er denkt nur, um sich zu quaͤlen, er wuͤnscht lieber, einige Augenblicke nicht zu existiren, und wie leicht ist die Neigung erweckt, sich auf einmahl von allen Uebeln zu befreien. Ganz natuͤrlich stellt ihm seine Vernunft den Selbstmord als etwas Abscheuliches vor, seine Liebe zum Leben, die nie in einem vernuͤnftigen Wesen ganz verloͤscht, spricht auch wenigstens dunkel dazwischen; – er findet seine moͤrderischen Gedanken verachtungswuͤrdig; aber er kann nicht Herr uͤber sie werden, denn sein Freiheitstrieb, sein Wunsch, sein Sehnen nach Ruhe ist staͤrker als seine Vernunft, und aus diesem abwechselnden Zustande muß nothwendig eine solche Gemuͤthslage entstehen, wie sie uns der ungluͤckliche Verfasser geschildert hat, und mit welcher die Einbildung: du wirst dich gewiß noch einmahl umbringen, natuͤrlich verbunden ist. P.
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[118/0120] so unvermuthet, und so lebhaftig diese Jdee und Einbildung war, so tief schnitte sie in das Gehirne ein, und legte einen Grund zu dem Gedanken und zu der Furcht, das zu thun, wofuͤr ich doch den groͤßten Abscheu hatte, mit der ich hernach lange Zeit bin geplagt worden. Je mehr ich vor diesem selbstmoͤrdrischen Bilde erschrack, je tiefer imprimirte es sich, und je oͤfter mußte es mir natuͤrlicherweise wieder einfallen. Doch blieb es nicht blos bei dieser Gattung und Specie; sondern ich wurde eben so stark hernach mit den Jdeen von stuͤrzen, ersaͤufen und haͤngen gemartert, wobei ich am Leibe abzehrte, und ganz zu verdorren anfing. Jmmer war eine unaussprechliche Furcht da, daß dergleichen noch geschehen moͤchte, und durch diese Furcht aus Aberglauben entstand die festeste Einbildung, daß es noch geschehen und dazu kommen werde. Man hat keine Lust und Reitzung dazu, wie einer, der zum Stehlen oder zum Ehebruch gereitzt wird, und solches zu begehen Lust bekommt; sondern man hat die groͤßte Furcht und Abscheu vor der Suͤnde des Selbstmordes, und gaͤbe die ganze Welt darum, um nur versichert zu werden, daß solches nicht geschehen wuͤrde*) . – Doch das war noch nicht alles. Zu *) Es ist aus unzaͤhligen Erfahrungen bewiesen, daß wir in gewißen Gemuͤthszustaͤnden eine Sache sehr verabscheuen, und sie doch zu gleicher Zeit begehren koͤnnen; Erfahrungen, welche dem psychologischen Satze eben nicht guͤnstig sind: daß wir nur das begehrten, was wir fuͤr gut, vollkommen oder angenehm hielten. Der menschliche Wille wird offenbar nicht immer nach den Schluͤssen der Vernunft von der Vollkommenheit oder Unvollkommenheit einer Sache; sondern sehr oft von dunkeln Jnstincten, von Ueberraschungen unserer Leidenschaften, von unwillkuͤrlichen Bildern der Phantasie bestimmt, ohne alle vorhergegangene Ueberlegung und Reflexion. Die Neigung zum Selbstmord, wenn auch die Seele auf der einen Seite den groͤßten Abscheu dagegen vermoͤge gewisser Vernunftgruͤnde haben kann, wird mir vornehmlich durch ein inneres Bestreben der Seele nach Freiheit, nach Entfernung der Lasten, die uns druͤcken, wogegen die Vernichtung unserer Existenz das beste Mittel zu seyn scheint, sehr erklaͤrbar. Der Hypochondrist fuͤhlt, daß er im hoͤchsten Grade ungluͤcklich ist, alle Bilder, die sich seine Seele schafft, sind fuͤrchterlich und schwarz, er denkt nur, um sich zu quaͤlen, er wuͤnscht lieber, einige Augenblicke nicht zu existiren, und wie leicht ist die Neigung erweckt, sich auf einmahl von allen Uebeln zu befreien. Ganz natuͤrlich stellt ihm seine Vernunft den Selbstmord als etwas Abscheuliches vor, seine Liebe zum Leben, die nie in einem vernuͤnftigen Wesen ganz verloͤscht, spricht auch wenigstens dunkel dazwischen; – er findet seine moͤrderischen Gedanken verachtungswuͤrdig; aber er kann nicht Herr uͤber sie werden, denn sein Freiheitstrieb, sein Wunsch, sein Sehnen nach Ruhe ist staͤrker als seine Vernunft, und aus diesem abwechselnden Zustande muß nothwendig eine solche Gemuͤthslage entstehen, wie sie uns der ungluͤckliche Verfasser geschildert hat, und mit welcher die Einbildung: du wirst dich gewiß noch einmahl umbringen, natuͤrlich verbunden ist. P.

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Zitationshilfe: Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 5, St. 1. Berlin, 1787, S. 118. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_erfahrungsseelenkunde0501_1787/120>, abgerufen am 27.11.2024.