Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 5, St. 1. Berlin, 1787.
Der Gedanke der guten Mutter, der der Gegenstand des gegenwärtigen Beitrags ist, lag nun einmahl tief in ihrer Seele, daß sie ihrem geliebten Kinde bald nachfolgen werde, und sie vermuthete, daß dieß am wahrscheinlichsten in den nächsten sechs Wochen geschehen könnte; es scheint, als ob ihre Phantasie sich recht mit Fleis diesen Umstand ausgesucht habe, weil eine Niederkunft so leicht eine Veranlassung zum Tode werden kann. Sie fühlte
Der Gedanke der guten Mutter, der der Gegenstand des gegenwaͤrtigen Beitrags ist, lag nun einmahl tief in ihrer Seele, daß sie ihrem geliebten Kinde bald nachfolgen werde, und sie vermuthete, daß dieß am wahrscheinlichsten in den naͤchsten sechs Wochen geschehen koͤnnte; es scheint, als ob ihre Phantasie sich recht mit Fleis diesen Umstand ausgesucht habe, weil eine Niederkunft so leicht eine Veranlassung zum Tode werden kann. Sie fuͤhlte <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0011" n="9"/><lb/> mir gar nichts <hi rendition="#b">Sonderbares</hi> zu liegen, so richtig sie auch nachher eingetroffen ist. Wer die <hi rendition="#b">lebhaften</hi> und <hi rendition="#b">schwaͤrmerischen</hi> Empfindungen des muͤtterlichen Herzens kennt, wenn es um den Tod eines geliebten Kindes trauert, wer das andere Geschlecht oft in melancholischen Stimmungen seines Gemuͤths beobachtet hat, wird bemerkt haben, daß es sich alsdann mit nichts lieber als mit Gedanken an Grab und Tod beschaͤftigt, und nichts mehr als seinen gestorbenen Lieblingen nachzufolgen wuͤnscht. Jch kenne mehrere vortrefliche Muͤtter, die in den Empfindungen ihres Schmerzes uͤber den Verlust ihrer geliebten Kinder sich nicht nur selbst sehnlichst den Tod gewuͤnscht; sondern auch geradezu <hi rendition="#b">behauptet</hi> haben, daß sie jenen gewiß bald nachfolgen <choice><corr>wuͤrden</corr><sic>wuͤrde</sic></choice>; – ob diese guten Seelen gleich diesen Augenblick noch leben. Wer wuͤrde es einem Psychologen verzeihen, wenn er aus solchen Aeußerungen der zu lebhaft gewordenen Phantasie gleich ein Vorhersehungsvermoͤgen der Seele folgern wollte!</p> <p>Der Gedanke der guten Mutter, der der Gegenstand des gegenwaͤrtigen Beitrags ist, lag nun einmahl tief in ihrer Seele, daß sie ihrem geliebten Kinde bald nachfolgen werde, und sie vermuthete, daß dieß am wahrscheinlichsten in den naͤchsten sechs Wochen geschehen <hi rendition="#b">koͤnnte;</hi> es scheint, als ob ihre Phantasie sich recht mit Fleis diesen Umstand ausgesucht habe, weil eine Niederkunft so leicht eine Veranlassung zum Tode werden kann. Sie fuͤhlte<lb/></p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [9/0011]
mir gar nichts Sonderbares zu liegen, so richtig sie auch nachher eingetroffen ist. Wer die lebhaften und schwaͤrmerischen Empfindungen des muͤtterlichen Herzens kennt, wenn es um den Tod eines geliebten Kindes trauert, wer das andere Geschlecht oft in melancholischen Stimmungen seines Gemuͤths beobachtet hat, wird bemerkt haben, daß es sich alsdann mit nichts lieber als mit Gedanken an Grab und Tod beschaͤftigt, und nichts mehr als seinen gestorbenen Lieblingen nachzufolgen wuͤnscht. Jch kenne mehrere vortrefliche Muͤtter, die in den Empfindungen ihres Schmerzes uͤber den Verlust ihrer geliebten Kinder sich nicht nur selbst sehnlichst den Tod gewuͤnscht; sondern auch geradezu behauptet haben, daß sie jenen gewiß bald nachfolgen wuͤrden; – ob diese guten Seelen gleich diesen Augenblick noch leben. Wer wuͤrde es einem Psychologen verzeihen, wenn er aus solchen Aeußerungen der zu lebhaft gewordenen Phantasie gleich ein Vorhersehungsvermoͤgen der Seele folgern wollte!
Der Gedanke der guten Mutter, der der Gegenstand des gegenwaͤrtigen Beitrags ist, lag nun einmahl tief in ihrer Seele, daß sie ihrem geliebten Kinde bald nachfolgen werde, und sie vermuthete, daß dieß am wahrscheinlichsten in den naͤchsten sechs Wochen geschehen koͤnnte; es scheint, als ob ihre Phantasie sich recht mit Fleis diesen Umstand ausgesucht habe, weil eine Niederkunft so leicht eine Veranlassung zum Tode werden kann. Sie fuͤhlte
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen … Christof Wingertszahn, Sheila Dickson, Goethe-Museum Düsseldorf/Anton-und-Katharina-Kippenberg-Stiftung, University of Glasgow: Erstellung der Transkription nach DTA-Richtlinien
(2015-06-09T11:00:00Z)
Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Matthias Boenig, Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie zu Berlin: Konvertierung nach DTA-Basisformat
(2015-06-09T11:00:00Z)
UB Uni-Bielefeld: Bereitstellung der Bilddigitalisate
(2015-06-09T11:00:00Z)
Weitere Informationen:Anmerkungen zur Transkription:
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |