Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 4, St. 3. Berlin, 1786.

Bild:
<< vorherige Seite


alle unsre übrigen Geschwister außerordentlich geneigt zu klagen und zum Thränenvergießen bei der geringsten, unbedeutendsten Vorstellung waren, daß wir, oder die Eltern, oder sonst ein guter, unschuldiger Mensch unrecht leide. Jch weiß, wie beruhigend für mich war dieses Gefühl, und wie erquickend eine Thräne. Und um Ueberzeugung zu haben, denn oft war ich offenbar selbst auch Ursache des Unrechts, suchte ich alle mögliche Gründe auf, für die Wahrheit meiner Empfindung, und um die entgegengesetzte Gründe zu verdunkeln, zu entnerven. Eben dies thut auch unsre Mutter.

Jemehr ich an Belesenheit, Kenntniß und eigener Verstandseinsicht zunahm, destomehr sah ich das Lächerliche dieser Gewohnheit ein; suchte sie auszurotten, und vermogt' es nicht. Aber, mich ganz gegen Unrecht unempfindlich zu machen, hielt ich auch pflichtwidrig; und nun, wenn ich Unrecht zu leiden glaube, so erwäge ich die Gründe für und wider auf das genaueste, und schlage mich nachher gerne zum Uebergewicht; und wenn dieses auf meine Seite fällt, so habe ich Wochenlang zu arbeiten, bis die Betrübniß, die Selbstlast und der stille Kummer, die mein Herz und alle meine Sinnen bis zur Betäubung, zu dem schmerzhaftesten Gefühle dahinreißen, aus meiner Brust entweichen. Aber der Gedanke der Beleidigung wird nie aus meinem Andenken verlöschen; und mein Gemüth wird sich nicht ehe wieder der vollen Heiterkeit, und


alle unsre uͤbrigen Geschwister außerordentlich geneigt zu klagen und zum Thraͤnenvergießen bei der geringsten, unbedeutendsten Vorstellung waren, daß wir, oder die Eltern, oder sonst ein guter, unschuldiger Mensch unrecht leide. Jch weiß, wie beruhigend fuͤr mich war dieses Gefuͤhl, und wie erquickend eine Thraͤne. Und um Ueberzeugung zu haben, denn oft war ich offenbar selbst auch Ursache des Unrechts, suchte ich alle moͤgliche Gruͤnde auf, fuͤr die Wahrheit meiner Empfindung, und um die entgegengesetzte Gruͤnde zu verdunkeln, zu entnerven. Eben dies thut auch unsre Mutter.

Jemehr ich an Belesenheit, Kenntniß und eigener Verstandseinsicht zunahm, destomehr sah ich das Laͤcherliche dieser Gewohnheit ein; suchte sie auszurotten, und vermogt' es nicht. Aber, mich ganz gegen Unrecht unempfindlich zu machen, hielt ich auch pflichtwidrig; und nun, wenn ich Unrecht zu leiden glaube, so erwaͤge ich die Gruͤnde fuͤr und wider auf das genaueste, und schlage mich nachher gerne zum Uebergewicht; und wenn dieses auf meine Seite faͤllt, so habe ich Wochenlang zu arbeiten, bis die Betruͤbniß, die Selbstlast und der stille Kummer, die mein Herz und alle meine Sinnen bis zur Betaͤubung, zu dem schmerzhaftesten Gefuͤhle dahinreißen, aus meiner Brust entweichen. Aber der Gedanke der Beleidigung wird nie aus meinem Andenken verloͤschen; und mein Gemuͤth wird sich nicht ehe wieder der vollen Heiterkeit, und

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0093" n="93"/><lb/>
alle unsre u&#x0364;brigen                         Geschwister außerordentlich geneigt zu klagen und zum Thra&#x0364;nenvergießen bei                         der geringsten, unbedeutendsten Vorstellung waren, daß wir, oder die Eltern,                         oder sonst ein guter, unschuldiger Mensch unrecht leide. Jch weiß, wie                         beruhigend fu&#x0364;r mich war dieses Gefu&#x0364;hl, und wie erquickend eine Thra&#x0364;ne. Und                         um Ueberzeugung zu haben, denn oft war ich offenbar selbst auch Ursache des                         Unrechts, suchte ich alle mo&#x0364;gliche Gru&#x0364;nde auf, fu&#x0364;r die Wahrheit meiner                         Empfindung, und um die entgegengesetzte Gru&#x0364;nde zu verdunkeln, zu entnerven.                         Eben dies thut auch unsre Mutter.</p>
            <p>Jemehr ich an Belesenheit, Kenntniß und eigener Verstandseinsicht zunahm,                         destomehr sah ich das La&#x0364;cherliche dieser Gewohnheit ein; suchte sie                         auszurotten, und vermogt' es nicht. Aber, mich ganz gegen Unrecht                         unempfindlich zu machen, hielt ich auch pflichtwidrig; und nun, wenn ich                         Unrecht zu leiden glaube, so erwa&#x0364;ge ich die Gru&#x0364;nde fu&#x0364;r und wider auf das                         genaueste, und schlage mich nachher gerne zum Uebergewicht; und wenn dieses                         auf meine Seite fa&#x0364;llt, so habe ich Wochenlang zu arbeiten, bis die                         Betru&#x0364;bniß, die Selbstlast und der stille Kummer, die mein Herz und alle                         meine Sinnen bis zur Beta&#x0364;ubung, zu dem schmerzhaftesten Gefu&#x0364;hle dahinreißen,                         aus meiner Brust entweichen. Aber der Gedanke der Beleidigung wird nie aus                         meinem Andenken verlo&#x0364;schen; und mein Gemu&#x0364;th wird sich nicht ehe wieder der                         vollen Heiterkeit, und<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[93/0093] alle unsre uͤbrigen Geschwister außerordentlich geneigt zu klagen und zum Thraͤnenvergießen bei der geringsten, unbedeutendsten Vorstellung waren, daß wir, oder die Eltern, oder sonst ein guter, unschuldiger Mensch unrecht leide. Jch weiß, wie beruhigend fuͤr mich war dieses Gefuͤhl, und wie erquickend eine Thraͤne. Und um Ueberzeugung zu haben, denn oft war ich offenbar selbst auch Ursache des Unrechts, suchte ich alle moͤgliche Gruͤnde auf, fuͤr die Wahrheit meiner Empfindung, und um die entgegengesetzte Gruͤnde zu verdunkeln, zu entnerven. Eben dies thut auch unsre Mutter. Jemehr ich an Belesenheit, Kenntniß und eigener Verstandseinsicht zunahm, destomehr sah ich das Laͤcherliche dieser Gewohnheit ein; suchte sie auszurotten, und vermogt' es nicht. Aber, mich ganz gegen Unrecht unempfindlich zu machen, hielt ich auch pflichtwidrig; und nun, wenn ich Unrecht zu leiden glaube, so erwaͤge ich die Gruͤnde fuͤr und wider auf das genaueste, und schlage mich nachher gerne zum Uebergewicht; und wenn dieses auf meine Seite faͤllt, so habe ich Wochenlang zu arbeiten, bis die Betruͤbniß, die Selbstlast und der stille Kummer, die mein Herz und alle meine Sinnen bis zur Betaͤubung, zu dem schmerzhaftesten Gefuͤhle dahinreißen, aus meiner Brust entweichen. Aber der Gedanke der Beleidigung wird nie aus meinem Andenken verloͤschen; und mein Gemuͤth wird sich nicht ehe wieder der vollen Heiterkeit, und

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Christof Wingertszahn, Sheila Dickson, Goethe-Museum Düsseldorf/Anton-und-Katharina-Kippenberg-Stiftung, University of Glasgow: Erstellung der Transkription nach DTA-Richtlinien (2015-06-09T11:00:00Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Matthias Boenig, Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie zu Berlin: Konvertierung nach DTA-Basisformat (2015-06-09T11:00:00Z)
UB Uni-Bielefeld: Bereitstellung der Bilddigitalisate (2015-06-09T11:00:00Z)

Weitere Informationen:

Anmerkungen zur Transkription:

  • Langes s (ſ) wird als rundes s (s) wiedergegeben.
  • Die Umlautschreibung mit ›e‹ über dem Vokal wurden übernommen.
  • Die Majuskel I/J wurde nicht nach Lautwert transkribiert.
  • Verbessert wird nur bei eindeutigen Druckfehlern. Die editorischen Eingriffe sind stets nachgewiesen.
  • Zu Moritz’ Zeit war es üblich, bei mehrzeiligen Zitaten vor jeder Zeile Anführungsstriche zu setzen. Diese wiederholten Anführungsstriche des Originals werden stillschweigend getilgt.
  • Die Druckgestalt der Vorlagen (Absätze, Überschriften, Schriftgrade etc.) wird schematisiert wiedergegeben. Der Zeilenfall wurde nicht übernommen.
  • Worteinfügungen der Herausgeber im edierten Text sowie Ergänzungen einzelner Buchstaben sind dokumentiert.
  • Die Originalseite wird als einzelne Seite in der Internetausgabe wiedergegeben. Von diesem Darstellungsprinzip wird bei langen, sich über mehr als eine Seite erstreckenden Fußnoten abgewichen. Die vollständige Fußnote erscheint in diesem Fall zusammenhängend an der ersten betreffenden Seite.
  • Die textkritischen Nachweise erfolgen in XML-Form nach dem DTABf-Schema: <choice><corr>[Verbesserung]</corr><sic>[Originaltext]</sic></choice> vorgenommen.



Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_erfahrungsseelenkunde0403_1786
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_erfahrungsseelenkunde0403_1786/93
Zitationshilfe: Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 4, St. 3. Berlin, 1786, S. 93. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_erfahrungsseelenkunde0403_1786/93>, abgerufen am 24.11.2024.