Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 4, St. 3. Berlin, 1786.
So lange die Welle über die umgebende Wasserfläche emporragt, und gewissermaßen von dieser Umgebung abgeschnitten ist, hat sie nur ein für sich bestehendes Daseyn; ist aber gegen das umgebende Ganze unendlich klein; sobald sie sich wieder in das umgebende Ganze verliert, ist sie mit denselben zwar größer, aber sie ist nun nicht mehr, was sie war; sie hat ihren Augenblick ausgedauert, und gerade dieselben Wassertropfen werden sich vielleicht nie wieder zusammen finden, um eine Welle zu bilden. Dieß sind zwar Bilder und Gleichnisse; allein wegen der großen Aehnlichkeit zwischen der Geister und Körperwelt in ihren Verhältnissen, geben Bilder uns oft mehr Aufschlüsse, als Abstraktionen, wenn wir sie immer nur als Bilder betrachten. Es ist nicht unangenehm, sich zuweilen in weiten dämmernden Aussichten, in Ahndungen und Träumen von einem vergangnen oder künftigen Daseyn andrer Art, wie das Gegenwärtige, zu
So lange die Welle uͤber die umgebende Wasserflaͤche emporragt, und gewissermaßen von dieser Umgebung abgeschnitten ist, hat sie nur ein fuͤr sich bestehendes Daseyn; ist aber gegen das umgebende Ganze unendlich klein; sobald sie sich wieder in das umgebende Ganze verliert, ist sie mit denselben zwar groͤßer, aber sie ist nun nicht mehr, was sie war; sie hat ihren Augenblick ausgedauert, und gerade dieselben Wassertropfen werden sich vielleicht nie wieder zusammen finden, um eine Welle zu bilden. Dieß sind zwar Bilder und Gleichnisse; allein wegen der großen Aehnlichkeit zwischen der Geister und Koͤrperwelt in ihren Verhaͤltnissen, geben Bilder uns oft mehr Aufschluͤsse, als Abstraktionen, wenn wir sie immer nur als Bilder betrachten. Es ist nicht unangenehm, sich zuweilen in weiten daͤmmernden Aussichten, in Ahndungen und Traͤumen von einem vergangnen oder kuͤnftigen Daseyn andrer Art, wie das Gegenwaͤrtige, zu <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0003" n="3"/><lb/> allein zu statten kommen, oder vielmehr <hi rendition="#b">nicht</hi> zu statten kommen; denn ein solcher Mensch muͤßte eine uͤbernatuͤrliche Staͤrke der Seele besitzen, oder die Aussicht, die sich ihm eroͤfnete, muͤßte ihn dem Wahnwitz nahe bringen, er muͤßte nothwendig seine <hi rendition="#b">isolirte Jchheit,</hi> seine Persoͤnlichkeit verlieren: er wuͤrde lebend aufhoͤren, zu seyn.</p> <p>So lange die Welle uͤber die umgebende Wasserflaͤche emporragt, und gewissermaßen von dieser Umgebung <hi rendition="#b">abgeschnitten</hi> ist, hat sie nur ein fuͤr sich bestehendes Daseyn; ist aber gegen das umgebende Ganze <hi rendition="#b">unendlich klein;</hi> sobald sie sich wieder in das umgebende Ganze verliert, ist sie <hi rendition="#b">mit denselben</hi> zwar groͤßer, aber sie ist nun nicht mehr, was sie war; sie hat ihren <hi rendition="#b">Augenblick</hi> ausgedauert, und <hi rendition="#b">gerade dieselben</hi> Wassertropfen werden sich vielleicht nie wieder zusammen finden, um eine Welle zu bilden.</p> <p>Dieß sind zwar <hi rendition="#b">Bilder und Gleichnisse;</hi> allein wegen der großen Aehnlichkeit zwischen der Geister und Koͤrperwelt in ihren Verhaͤltnissen, geben Bilder uns oft mehr Aufschluͤsse, als Abstraktionen, wenn wir sie immer <hi rendition="#b">nur als Bilder</hi> betrachten.</p> <p>Es ist nicht unangenehm, sich zuweilen in weiten daͤmmernden Aussichten, in Ahndungen und Traͤumen von einem vergangnen oder kuͤnftigen Daseyn andrer Art, wie das Gegenwaͤrtige, zu<lb/></p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [3/0003]
allein zu statten kommen, oder vielmehr nicht zu statten kommen; denn ein solcher Mensch muͤßte eine uͤbernatuͤrliche Staͤrke der Seele besitzen, oder die Aussicht, die sich ihm eroͤfnete, muͤßte ihn dem Wahnwitz nahe bringen, er muͤßte nothwendig seine isolirte Jchheit, seine Persoͤnlichkeit verlieren: er wuͤrde lebend aufhoͤren, zu seyn.
So lange die Welle uͤber die umgebende Wasserflaͤche emporragt, und gewissermaßen von dieser Umgebung abgeschnitten ist, hat sie nur ein fuͤr sich bestehendes Daseyn; ist aber gegen das umgebende Ganze unendlich klein; sobald sie sich wieder in das umgebende Ganze verliert, ist sie mit denselben zwar groͤßer, aber sie ist nun nicht mehr, was sie war; sie hat ihren Augenblick ausgedauert, und gerade dieselben Wassertropfen werden sich vielleicht nie wieder zusammen finden, um eine Welle zu bilden.
Dieß sind zwar Bilder und Gleichnisse; allein wegen der großen Aehnlichkeit zwischen der Geister und Koͤrperwelt in ihren Verhaͤltnissen, geben Bilder uns oft mehr Aufschluͤsse, als Abstraktionen, wenn wir sie immer nur als Bilder betrachten.
Es ist nicht unangenehm, sich zuweilen in weiten daͤmmernden Aussichten, in Ahndungen und Traͤumen von einem vergangnen oder kuͤnftigen Daseyn andrer Art, wie das Gegenwaͤrtige, zu
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Zitationshilfe: | Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 4, St. 3. Berlin, 1786, S. 3. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_erfahrungsseelenkunde0403_1786/3>, abgerufen am 16.07.2024. |