Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 4, St. 3. Berlin, 1786.Wir geben dem Begriffe des Seyns Persönlichkeit, indem wir Wesen sagen. Wesen ist das auf ein Jndividuum beschränkte Seyn -- ein Seyn kann ich nicht sagen, weil das seyn nicht eins oder einzig seyn kann, aber wohl ein Wesen, weil die Art des Seyns einzig seyn kann. Daß nun aber durch gewesen das vergangne Seyn ausgedrückt wird, scheint darin seinen Grund zu haben, weil das vergangne Seyn gleichsam etwas Vollendetes, Ganzes ist: das vergangne Seyn ist gleichsam ein Wesen geworden, weil es nicht mehr wird, sondern schon wirklich ist, was es seyn soll. Das Wesen eines Dinges ist also sein vollendetes, nicht mehr werdendes, sondern von jeher vorhandenes Seyn -- Wie? wo? was? Weise; Wesen sind alles Wörter einer Wurzel, des die Beschaffenheit, oder die Art bezeichnenden w. Was ist ein Ding? welches Wesen hat ein Ding? auf welche Weise geschieht ein Ding? Jn der Deutschen Sprache bezeichnet das w fast durchgängig die Beschaffenheit im Gegensatz gegen die Wirklichkeit, die durch d ausgedrückt wird. -- Darum kann ich auch sagen: das Wesen eines Dinges, aber nicht das Ding eines Wesens; denn die Wirklichkeit muß der Beschaffenheit nothwendig zur Unterlage dienen. Wir geben dem Begriffe des Seyns Persoͤnlichkeit, indem wir Wesen sagen. Wesen ist das auf ein Jndividuum beschraͤnkte Seyn — ein Seyn kann ich nicht sagen, weil das seyn nicht eins oder einzig seyn kann, aber wohl ein Wesen, weil die Art des Seyns einzig seyn kann. Daß nun aber durch gewesen das vergangne Seyn ausgedruͤckt wird, scheint darin seinen Grund zu haben, weil das vergangne Seyn gleichsam etwas Vollendetes, Ganzes ist: das vergangne Seyn ist gleichsam ein Wesen geworden, weil es nicht mehr wird, sondern schon wirklich ist, was es seyn soll. Das Wesen eines Dinges ist also sein vollendetes, nicht mehr werdendes, sondern von jeher vorhandenes Seyn — Wie? wo? was? Weise; Wesen sind alles Woͤrter einer Wurzel, des die Beschaffenheit, oder die Art bezeichnenden w. Was ist ein Ding? welches Wesen hat ein Ding? auf welche Weise geschieht ein Ding? Jn der Deutschen Sprache bezeichnet das w fast durchgaͤngig die Beschaffenheit im Gegensatz gegen die Wirklichkeit, die durch d ausgedruͤckt wird. — Darum kann ich auch sagen: das Wesen eines Dinges, aber nicht das Ding eines Wesens; denn die Wirklichkeit muß der Beschaffenheit nothwendig zur Unterlage dienen. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <pb facs="#f0106" n="106"/><lb/> <p>Wir geben dem Begriffe des Seyns Persoͤnlichkeit, indem wir <hi rendition="#b">Wesen</hi> sagen. Wesen ist das auf ein Jndividuum beschraͤnkte <hi rendition="#b">Seyn</hi> — <hi rendition="#b">ein Seyn</hi> kann ich nicht sagen, weil das <hi rendition="#b">seyn</hi> nicht eins oder einzig seyn kann, aber wohl ein Wesen, weil die Art des Seyns einzig seyn kann. </p> <p>Daß nun aber durch <hi rendition="#b">gewesen</hi> das vergangne Seyn ausgedruͤckt wird, scheint darin seinen Grund zu haben, weil das vergangne Seyn gleichsam etwas Vollendetes, Ganzes ist: das vergangne Seyn ist gleichsam ein <hi rendition="#b">Wesen</hi> geworden, weil es nicht mehr <hi rendition="#b">wird,</hi> sondern schon wirklich <hi rendition="#b">ist,</hi> was es seyn soll. </p> <p>Das Wesen eines Dinges ist also sein vollendetes, nicht mehr werdendes, sondern von jeher vorhandenes <hi rendition="#b">Seyn</hi> — </p> <p> <hi rendition="#b"> Wie? wo? was? Weise; Wesen </hi> </p> <p>sind alles Woͤrter einer Wurzel, des die Beschaffenheit, oder die Art bezeichnenden <hi rendition="#b">w.</hi> </p> <p><hi rendition="#b">Was</hi> ist ein Ding? </p> <p>welches <hi rendition="#b">Wesen</hi> hat ein Ding? </p> <p>auf welche <hi rendition="#b">Weise</hi> geschieht ein Ding? </p> <p>Jn der Deutschen Sprache bezeichnet das <hi rendition="#b">w</hi> fast durchgaͤngig die Beschaffenheit im Gegensatz gegen die Wirklichkeit, die durch <hi rendition="#b">d</hi> ausgedruͤckt wird. — Darum kann ich auch sagen: <hi rendition="#b">das Wesen eines Dinges,</hi> aber nicht <hi rendition="#b">das Ding eines Wesens;</hi> denn die Wirklichkeit muß der Beschaffenheit nothwendig zur Unterlage dienen. </p><lb/> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [106/0106]
Wir geben dem Begriffe des Seyns Persoͤnlichkeit, indem wir Wesen sagen. Wesen ist das auf ein Jndividuum beschraͤnkte Seyn — ein Seyn kann ich nicht sagen, weil das seyn nicht eins oder einzig seyn kann, aber wohl ein Wesen, weil die Art des Seyns einzig seyn kann.
Daß nun aber durch gewesen das vergangne Seyn ausgedruͤckt wird, scheint darin seinen Grund zu haben, weil das vergangne Seyn gleichsam etwas Vollendetes, Ganzes ist: das vergangne Seyn ist gleichsam ein Wesen geworden, weil es nicht mehr wird, sondern schon wirklich ist, was es seyn soll.
Das Wesen eines Dinges ist also sein vollendetes, nicht mehr werdendes, sondern von jeher vorhandenes Seyn —
Wie? wo? was? Weise; Wesen
sind alles Woͤrter einer Wurzel, des die Beschaffenheit, oder die Art bezeichnenden w.
Was ist ein Ding?
welches Wesen hat ein Ding?
auf welche Weise geschieht ein Ding?
Jn der Deutschen Sprache bezeichnet das w fast durchgaͤngig die Beschaffenheit im Gegensatz gegen die Wirklichkeit, die durch d ausgedruͤckt wird. — Darum kann ich auch sagen: das Wesen eines Dinges, aber nicht das Ding eines Wesens; denn die Wirklichkeit muß der Beschaffenheit nothwendig zur Unterlage dienen.
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Zitationshilfe: | Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 4, St. 3. Berlin, 1786, S. 106. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_erfahrungsseelenkunde0403_1786/106>, abgerufen am 16.02.2025. |