Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 4, St. 2. Berlin, 1786.
Dasjenige, worin man wetteiferte, waren bald lateinische Exerzizien, bald Lektionen zum Auswendiglernen u.s.w., und unter andern auch Fragen, welche grammatikalische Regeln oder lateinische oder griechische Phrasen betrafen, und von dem Lehrer zuerst an den obersten, und wenn dieser sie nicht beantworten konnte, an den folgenden, u.s.w. gethan wurden; welcher denn die Antwort wußte, wurde über denjenigen gesetzt, der sie nicht gewußt hatte. Nun träumte mir einstmals, daß ich mich in der lateinischen Klasse befand; daß der Lehrer eine Frage über den Sinn einer lateinischen Phrases aufwarf, und daß ich gerade der erste in der Reihe war, und den festesten Vorsatz bei mir empfand, diesen Platz, wo möglich zu behaupten. Da mir aber nun die Frage wirklich vorgelegt wurde, blieb ich stumm, und zerbrach mir vergebens den Kopf, um die Antwort darauf zu finden. Jch sahe denjenigen, der nach mir saß, Zeichen der Ungeduld von sich geben, um befragt zu werden -- ein Beweiß, daß er die Antwort wußte. -- Der Gedanke, an diesen meine Stelle abtreten zu müssen, setzte mich beinahe in eine Art von Wuth; aber ich suchte vergebens in meinem Kopfe
Dasjenige, worin man wetteiferte, waren bald lateinische Exerzizien, bald Lektionen zum Auswendiglernen u.s.w., und unter andern auch Fragen, welche grammatikalische Regeln oder lateinische oder griechische Phrasen betrafen, und von dem Lehrer zuerst an den obersten, und wenn dieser sie nicht beantworten konnte, an den folgenden, u.s.w. gethan wurden; welcher denn die Antwort wußte, wurde uͤber denjenigen gesetzt, der sie nicht gewußt hatte. Nun traͤumte mir einstmals, daß ich mich in der lateinischen Klasse befand; daß der Lehrer eine Frage uͤber den Sinn einer lateinischen Phrases aufwarf, und daß ich gerade der erste in der Reihe war, und den festesten Vorsatz bei mir empfand, diesen Platz, wo moͤglich zu behaupten. Da mir aber nun die Frage wirklich vorgelegt wurde, blieb ich stumm, und zerbrach mir vergebens den Kopf, um die Antwort darauf zu finden. Jch sahe denjenigen, der nach mir saß, Zeichen der Ungeduld von sich geben, um befragt zu werden — ein Beweiß, daß er die Antwort wußte. — Der Gedanke, an diesen meine Stelle abtreten zu muͤssen, setzte mich beinahe in eine Art von Wuth; aber ich suchte vergebens in meinem Kopfe <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <p><pb facs="#f0089" n="89"/><lb/> gen Beruf des Fleisses und der Aufmerksamkeit richtete, und sich also oft veraͤnderte. </p> <p>Dasjenige, worin man wetteiferte, waren bald lateinische Exerzizien, bald Lektionen zum Auswendiglernen u.s.w., und unter andern auch Fragen, welche grammatikalische Regeln oder lateinische oder griechische Phrasen betrafen, und von dem Lehrer zuerst an den obersten, und wenn dieser sie nicht beantworten konnte, an den folgenden, u.s.w. gethan wurden; welcher denn die Antwort wußte, wurde uͤber denjenigen gesetzt, der sie nicht gewußt hatte. </p> <p>Nun traͤumte mir einstmals, daß ich mich in der lateinischen Klasse befand; daß der Lehrer eine Frage uͤber den Sinn einer lateinischen Phrases aufwarf, und daß ich gerade der erste in der Reihe war, und den festesten Vorsatz bei mir empfand, diesen Platz, wo moͤglich zu behaupten. </p> <p>Da mir aber nun die Frage wirklich vorgelegt wurde, blieb ich stumm, und zerbrach mir vergebens den Kopf, um die Antwort darauf zu finden. </p> <p>Jch sahe denjenigen, der nach mir saß, Zeichen der Ungeduld von sich geben, um befragt zu werden — ein Beweiß, daß er die Antwort wußte. — </p> <p>Der Gedanke, an diesen meine Stelle abtreten zu muͤssen, setzte mich beinahe in eine Art von Wuth; aber ich suchte vergebens in meinem Kopfe<lb/></p> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [89/0089]
gen Beruf des Fleisses und der Aufmerksamkeit richtete, und sich also oft veraͤnderte.
Dasjenige, worin man wetteiferte, waren bald lateinische Exerzizien, bald Lektionen zum Auswendiglernen u.s.w., und unter andern auch Fragen, welche grammatikalische Regeln oder lateinische oder griechische Phrasen betrafen, und von dem Lehrer zuerst an den obersten, und wenn dieser sie nicht beantworten konnte, an den folgenden, u.s.w. gethan wurden; welcher denn die Antwort wußte, wurde uͤber denjenigen gesetzt, der sie nicht gewußt hatte.
Nun traͤumte mir einstmals, daß ich mich in der lateinischen Klasse befand; daß der Lehrer eine Frage uͤber den Sinn einer lateinischen Phrases aufwarf, und daß ich gerade der erste in der Reihe war, und den festesten Vorsatz bei mir empfand, diesen Platz, wo moͤglich zu behaupten.
Da mir aber nun die Frage wirklich vorgelegt wurde, blieb ich stumm, und zerbrach mir vergebens den Kopf, um die Antwort darauf zu finden.
Jch sahe denjenigen, der nach mir saß, Zeichen der Ungeduld von sich geben, um befragt zu werden — ein Beweiß, daß er die Antwort wußte. —
Der Gedanke, an diesen meine Stelle abtreten zu muͤssen, setzte mich beinahe in eine Art von Wuth; aber ich suchte vergebens in meinem Kopfe
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Zitationshilfe: | Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 4, St. 2. Berlin, 1786, S. 89. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_erfahrungsseelenkunde0402_1786/89>, abgerufen am 16.02.2025. |