Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 4, St. 2. Berlin, 1786.Zu der Zeit jener Theurung waren's unser drei; Du, lieber Bruder! warst ein Jahr älter als ich, und N.. ein Jahr jünger. Oft da wir so beisammen sassen, erzählte uns unsere Mutter von dem Elende, welches die Theurung so weit herum verbreitet; wie die Armuth schmachtet, wie der laute Jammer der Nothleidenden den weiten Himmel durchdringt, wie die Thräne sich von der Mutterwange auf den Säugling ergießt, der an der leeren Brust nach Nahrung winselte; wie der Vater über den Anblick seiner siechen Familie gerührt, dann verzweifelnd, für ihre Rettung Schande, Gefahren und Tod trotzt. Wir hörten zu, aber wir selbst empfanden dies unglückliche Schicksal damals zu wenig, als uns es in seiner ganzen Größe vorzustellen. Meine Mutter ließ keinen, der um etwas bat, ohngetrost hinweggehen; ja zuweilen überschritt sie die Gränzen der Wohltätigkeit, und gab in ihrem mit fühlenden Paroxismus alles hin, was sie aufbringen konnte. Wir mußten also nachher selbst Mangel empfinden, wir litten aber den Verlust gerne; denn Begierde, das Leiden des Bruders zu lindern, Mitgefühl und Empfänglichkeit für Vergnügen an dergleichen uneigennützigen Handlungen, waren für uns doch schon Wirkungen ihres Beispiels und ihrer Lehre. Einmal ging ich vor die Thüre meines Hauses; der Tag war schön, und es kam eine Frau vor die Hofthüre, die um ein Zu der Zeit jener Theurung waren's unser drei; Du, lieber Bruder! warst ein Jahr aͤlter als ich, und N.. ein Jahr juͤnger. Oft da wir so beisammen sassen, erzaͤhlte uns unsere Mutter von dem Elende, welches die Theurung so weit herum verbreitet; wie die Armuth schmachtet, wie der laute Jammer der Nothleidenden den weiten Himmel durchdringt, wie die Thraͤne sich von der Mutterwange auf den Saͤugling ergießt, der an der leeren Brust nach Nahrung winselte; wie der Vater uͤber den Anblick seiner siechen Familie geruͤhrt, dann verzweifelnd, fuͤr ihre Rettung Schande, Gefahren und Tod trotzt. Wir hoͤrten zu, aber wir selbst empfanden dies ungluͤckliche Schicksal damals zu wenig, als uns es in seiner ganzen Groͤße vorzustellen. Meine Mutter ließ keinen, der um etwas bat, ohngetrost hinweggehen; ja zuweilen uͤberschritt sie die Graͤnzen der Wohltaͤtigkeit, und gab in ihrem mit fuͤhlenden Paroxismus alles hin, was sie aufbringen konnte. Wir mußten also nachher selbst Mangel empfinden, wir litten aber den Verlust gerne; denn Begierde, das Leiden des Bruders zu lindern, Mitgefuͤhl und Empfaͤnglichkeit fuͤr Vergnuͤgen an dergleichen uneigennuͤtzigen Handlungen, waren fuͤr uns doch schon Wirkungen ihres Beispiels und ihrer Lehre. Einmal ging ich vor die Thuͤre meines Hauses; der Tag war schoͤn, und es kam eine Frau vor die Hofthuͤre, die um ein <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <pb facs="#f0070" n="70"/><lb/> <p>Zu der Zeit jener Theurung waren's unser drei; Du, lieber Bruder! warst ein Jahr aͤlter als ich, und N.. ein Jahr juͤnger. Oft da wir so beisammen sassen, erzaͤhlte uns unsere Mutter von dem Elende, welches die Theurung so weit herum verbreitet; wie die Armuth schmachtet, wie der laute Jammer der Nothleidenden den weiten Himmel durchdringt, wie die Thraͤne sich von der Mutterwange auf den Saͤugling ergießt, der an der leeren Brust nach Nahrung winselte; wie der Vater uͤber den Anblick seiner siechen Familie geruͤhrt, dann verzweifelnd, fuͤr ihre Rettung Schande, Gefahren und Tod trotzt. Wir hoͤrten zu, aber wir selbst empfanden dies ungluͤckliche Schicksal damals zu wenig, als uns es in seiner ganzen Groͤße vorzustellen. </p> <p>Meine Mutter ließ keinen, der um etwas bat, ohngetrost hinweggehen; ja zuweilen uͤberschritt sie die Graͤnzen der Wohltaͤtigkeit, und gab in ihrem mit fuͤhlenden Paroxismus alles hin, was sie aufbringen konnte. Wir mußten also nachher selbst Mangel empfinden, wir litten aber den Verlust gerne; denn Begierde, das Leiden des Bruders zu lindern, Mitgefuͤhl und Empfaͤnglichkeit fuͤr Vergnuͤgen an dergleichen uneigennuͤtzigen Handlungen, waren fuͤr uns doch schon Wirkungen ihres Beispiels und ihrer Lehre. Einmal ging ich vor die Thuͤre meines Hauses; der Tag war schoͤn, und es kam eine Frau vor die Hofthuͤre, die um ein<lb/></p> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [70/0070]
Zu der Zeit jener Theurung waren's unser drei; Du, lieber Bruder! warst ein Jahr aͤlter als ich, und N.. ein Jahr juͤnger. Oft da wir so beisammen sassen, erzaͤhlte uns unsere Mutter von dem Elende, welches die Theurung so weit herum verbreitet; wie die Armuth schmachtet, wie der laute Jammer der Nothleidenden den weiten Himmel durchdringt, wie die Thraͤne sich von der Mutterwange auf den Saͤugling ergießt, der an der leeren Brust nach Nahrung winselte; wie der Vater uͤber den Anblick seiner siechen Familie geruͤhrt, dann verzweifelnd, fuͤr ihre Rettung Schande, Gefahren und Tod trotzt. Wir hoͤrten zu, aber wir selbst empfanden dies ungluͤckliche Schicksal damals zu wenig, als uns es in seiner ganzen Groͤße vorzustellen.
Meine Mutter ließ keinen, der um etwas bat, ohngetrost hinweggehen; ja zuweilen uͤberschritt sie die Graͤnzen der Wohltaͤtigkeit, und gab in ihrem mit fuͤhlenden Paroxismus alles hin, was sie aufbringen konnte. Wir mußten also nachher selbst Mangel empfinden, wir litten aber den Verlust gerne; denn Begierde, das Leiden des Bruders zu lindern, Mitgefuͤhl und Empfaͤnglichkeit fuͤr Vergnuͤgen an dergleichen uneigennuͤtzigen Handlungen, waren fuͤr uns doch schon Wirkungen ihres Beispiels und ihrer Lehre. Einmal ging ich vor die Thuͤre meines Hauses; der Tag war schoͤn, und es kam eine Frau vor die Hofthuͤre, die um ein
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Zitationshilfe: | Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 4, St. 2. Berlin, 1786, S. 70. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_erfahrungsseelenkunde0402_1786/70>, abgerufen am 16.02.2025. |