Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 4, St. 2. Berlin, 1786.
Gesichtspunkt ist ein Ausdruck, dessen man sich oft bedient, ohne recht aufmerksam auf den Begriff zu seyn, welchen er bezeichnet, und welcher vielleicht einer unserer schwersten Begriffe ist. -- Zu jeder deutlichen Vorstellung gehöret gleichsam ein Mittelpunkt und ein Umkreis -- setze ich nun den seynsollenden Mittelpunkt eines Umkreises nicht gerade in die Mitte desselben, so kann ich unmöglich eine deutliche Jdee von dem Umkreise erhalten, der eine Theil desselben muß gleichsam aus der Sphäre meiner Betrachtung wegfallen -- ich urtheile daher falsch -- das Wohlgeordnete und Gerade kömmt mir schief und ungerade vor -- ich habe die Sache nicht aus dem rechten Gesichtspunkte betrachtet. -- Der Mittelpunkt des Umkreises ist der Zweck, worauf sich alles übrige bezieht, wie die Radien eines Zirkels auf den Mittelpunkt desselben -- nehme ich nun z.B. einen untergeordneten Zweck für den Hauptzweck, so muß mir nothwendig ein großer Theil der Dinge, die ich aus einem Gesichtspunkte betrachte, unzweckmäßig scheinen -- der Cirkel ist nicht gehörig geründet -- ich kann die Sache nicht fassen. --
Gesichtspunkt ist ein Ausdruck, dessen man sich oft bedient, ohne recht aufmerksam auf den Begriff zu seyn, welchen er bezeichnet, und welcher vielleicht einer unserer schwersten Begriffe ist. — Zu jeder deutlichen Vorstellung gehoͤret gleichsam ein Mittelpunkt und ein Umkreis — setze ich nun den seynsollenden Mittelpunkt eines Umkreises nicht gerade in die Mitte desselben, so kann ich unmoͤglich eine deutliche Jdee von dem Umkreise erhalten, der eine Theil desselben muß gleichsam aus der Sphaͤre meiner Betrachtung wegfallen — ich urtheile daher falsch — das Wohlgeordnete und Gerade koͤmmt mir schief und ungerade vor — ich habe die Sache nicht aus dem rechten Gesichtspunkte betrachtet. — Der Mittelpunkt des Umkreises ist der Zweck, worauf sich alles uͤbrige bezieht, wie die Radien eines Zirkels auf den Mittelpunkt desselben — nehme ich nun z.B. einen untergeordneten Zweck fuͤr den Hauptzweck, so muß mir nothwendig ein großer Theil der Dinge, die ich aus einem Gesichtspunkte betrachte, unzweckmaͤßig scheinen — der Cirkel ist nicht gehoͤrig geruͤndet — ich kann die Sache nicht fassen. — <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0016" n="16"/><lb/> sich mit dem Finger einen Stern auf die Brust zu mahlen scheint — dieser einzelne Gesichtspunkt dient ihm statt des Nahmens <hi rendition="#b">Koͤnig.</hi> — </p> <div n="3"> <head> <hi rendition="#b">Gesichtspunkt</hi> </head><lb/> <p>ist ein Ausdruck, dessen man sich oft bedient, ohne recht aufmerksam auf den Begriff zu seyn, welchen er bezeichnet, und welcher vielleicht einer unserer schwersten Begriffe ist. — </p> <p>Zu jeder deutlichen Vorstellung gehoͤret gleichsam ein <hi rendition="#b">Mittelpunkt </hi> und ein <hi rendition="#b">Umkreis</hi> — setze ich nun den seynsollenden Mittelpunkt eines Umkreises nicht gerade in die Mitte desselben, so kann ich unmoͤglich eine deutliche Jdee von dem Umkreise erhalten, der eine Theil desselben muß gleichsam aus der Sphaͤre meiner Betrachtung wegfallen — ich urtheile daher falsch — das Wohlgeordnete und Gerade koͤmmt mir schief und ungerade vor — ich habe die Sache nicht aus dem rechten Gesichtspunkte betrachtet. — </p> <p>Der Mittelpunkt des Umkreises ist der <hi rendition="#b">Zweck,</hi> worauf sich alles uͤbrige bezieht, wie die Radien eines Zirkels auf den Mittelpunkt desselben — nehme ich nun z.B. einen untergeordneten Zweck fuͤr den Hauptzweck, so muß mir nothwendig ein großer Theil der Dinge, die ich aus einem Gesichtspunkte betrachte, unzweckmaͤßig scheinen — der Cirkel ist nicht gehoͤrig geruͤndet — ich kann die Sache nicht fassen. — </p><lb/> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [16/0016]
sich mit dem Finger einen Stern auf die Brust zu mahlen scheint — dieser einzelne Gesichtspunkt dient ihm statt des Nahmens Koͤnig. —
Gesichtspunkt
ist ein Ausdruck, dessen man sich oft bedient, ohne recht aufmerksam auf den Begriff zu seyn, welchen er bezeichnet, und welcher vielleicht einer unserer schwersten Begriffe ist. —
Zu jeder deutlichen Vorstellung gehoͤret gleichsam ein Mittelpunkt und ein Umkreis — setze ich nun den seynsollenden Mittelpunkt eines Umkreises nicht gerade in die Mitte desselben, so kann ich unmoͤglich eine deutliche Jdee von dem Umkreise erhalten, der eine Theil desselben muß gleichsam aus der Sphaͤre meiner Betrachtung wegfallen — ich urtheile daher falsch — das Wohlgeordnete und Gerade koͤmmt mir schief und ungerade vor — ich habe die Sache nicht aus dem rechten Gesichtspunkte betrachtet. —
Der Mittelpunkt des Umkreises ist der Zweck, worauf sich alles uͤbrige bezieht, wie die Radien eines Zirkels auf den Mittelpunkt desselben — nehme ich nun z.B. einen untergeordneten Zweck fuͤr den Hauptzweck, so muß mir nothwendig ein großer Theil der Dinge, die ich aus einem Gesichtspunkte betrachte, unzweckmaͤßig scheinen — der Cirkel ist nicht gehoͤrig geruͤndet — ich kann die Sache nicht fassen. —
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Zitationshilfe: | Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 4, St. 2. Berlin, 1786, S. 16. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_erfahrungsseelenkunde0402_1786/16>, abgerufen am 16.02.2025. |