Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 3, St. 2. Berlin, 1785.
Wenn nun aber auch bei der Bruderliebe Erziehung das Beste thun muß, so wird dennoch die Frage: wie kam dieser Mordgedanke in meine Seele? um nichts leichter; ja vielleicht noch schwerer und verwickelter die Untersuchung, wie er sich solange darin erhalten, und in einem Moment das Begehrungs- und Verabscheuungsvermögen in derselben, gleich stark, gleich dringend seyn konnte? Doch, je öfter ich über diesen unwillkührlichen Mordentschluß nachdenke, je mehr ich ihn auf der Spur zu beschleichen strebe; desto lebhafter und wahrscheinlicher werden mir einige Gedanken, die, meinem Auge wenigstens den Gang dieser augenblicklichen Raserey so natürlich zu bezeichnen, und meinen damaligen Umständen insonderheit, so anpassend zu seyn scheinen, daß ich sie fast für den einzigen Schlüssel zu diesem psychologischen Rätzel halten möchte. Hier ist der Standpunkt, von wel-
Wenn nun aber auch bei der Bruderliebe Erziehung das Beste thun muß, so wird dennoch die Frage: wie kam dieser Mordgedanke in meine Seele? um nichts leichter; ja vielleicht noch schwerer und verwickelter die Untersuchung, wie er sich solange darin erhalten, und in einem Moment das Begehrungs- und Verabscheuungsvermoͤgen in derselben, gleich stark, gleich dringend seyn konnte? Doch, je oͤfter ich uͤber diesen unwillkuͤhrlichen Mordentschluß nachdenke, je mehr ich ihn auf der Spur zu beschleichen strebe; desto lebhafter und wahrscheinlicher werden mir einige Gedanken, die, meinem Auge wenigstens den Gang dieser augenblicklichen Raserey so natuͤrlich zu bezeichnen, und meinen damaligen Umstaͤnden insonderheit, so anpassend zu seyn scheinen, daß ich sie fast fuͤr den einzigen Schluͤssel zu diesem psychologischen Raͤtzel halten moͤchte. Hier ist der Standpunkt, von wel- <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0064" n="64"/><lb/> nauern Untersuchung werth, wie weit die Anspruͤche der Natur und der Erziehung an die Bruderliebe reichen. Sorgfaͤltige Beobachtungen uͤber mehrere Bruͤder, wuͤrden uns hieruͤber, so wie uͤber die Natur, Motive und Entwickelung der Liebe uͤberhaupt, die beste Auskunft geben. Die nothwendige Ungleichheit der Liebe unter Bruͤdern ist ein Beweis, das bei derselben, so wie bei der Liebe uͤberhaupt, Willkuͤhr und Selbstthaͤtigkeit zum Grunde liegen. </p> <p>Wenn nun aber auch bei der Bruderliebe Erziehung das Beste thun muß, so wird dennoch die Frage: wie kam dieser Mordgedanke in meine Seele? um nichts leichter; ja vielleicht noch schwerer und verwickelter die Untersuchung, wie er sich solange darin erhalten, und in einem Moment das Begehrungs- und Verabscheuungsvermoͤgen in derselben, gleich stark, gleich dringend seyn konnte? Doch, je oͤfter ich uͤber diesen unwillkuͤhrlichen Mordentschluß nachdenke, je mehr ich ihn auf der Spur zu beschleichen strebe; desto lebhafter und wahrscheinlicher werden mir einige Gedanken, die, meinem Auge wenigstens den Gang dieser augenblicklichen Raserey so natuͤrlich zu bezeichnen, und meinen damaligen Umstaͤnden insonderheit, so anpassend zu seyn scheinen, daß ich sie fast fuͤr den einzigen Schluͤssel zu <hi rendition="#b">diesem</hi> psychologischen Raͤtzel halten moͤchte. Hier ist der Standpunkt, von wel-<lb/></p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [64/0064]
nauern Untersuchung werth, wie weit die Anspruͤche der Natur und der Erziehung an die Bruderliebe reichen. Sorgfaͤltige Beobachtungen uͤber mehrere Bruͤder, wuͤrden uns hieruͤber, so wie uͤber die Natur, Motive und Entwickelung der Liebe uͤberhaupt, die beste Auskunft geben. Die nothwendige Ungleichheit der Liebe unter Bruͤdern ist ein Beweis, das bei derselben, so wie bei der Liebe uͤberhaupt, Willkuͤhr und Selbstthaͤtigkeit zum Grunde liegen.
Wenn nun aber auch bei der Bruderliebe Erziehung das Beste thun muß, so wird dennoch die Frage: wie kam dieser Mordgedanke in meine Seele? um nichts leichter; ja vielleicht noch schwerer und verwickelter die Untersuchung, wie er sich solange darin erhalten, und in einem Moment das Begehrungs- und Verabscheuungsvermoͤgen in derselben, gleich stark, gleich dringend seyn konnte? Doch, je oͤfter ich uͤber diesen unwillkuͤhrlichen Mordentschluß nachdenke, je mehr ich ihn auf der Spur zu beschleichen strebe; desto lebhafter und wahrscheinlicher werden mir einige Gedanken, die, meinem Auge wenigstens den Gang dieser augenblicklichen Raserey so natuͤrlich zu bezeichnen, und meinen damaligen Umstaͤnden insonderheit, so anpassend zu seyn scheinen, daß ich sie fast fuͤr den einzigen Schluͤssel zu diesem psychologischen Raͤtzel halten moͤchte. Hier ist der Standpunkt, von wel-
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Zitationshilfe: | Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 3, St. 2. Berlin, 1785, S. 64. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_erfahrungsseelenkunde0303_1785/64>, abgerufen am 16.02.2025. |