Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 3, St. 2. Berlin, 1785.Zur Seelennaturkunde. I. Moralität eines Taubstummen. Joh. Christian Hackenthal war seit seinem dritten Jahre taub und stumm. Seine Mutter erzählte daß er damals schon etwas habe sprechen, und ein paar kleine Gebete hersagen können, als sie, indem sie ihn auf dem Arm gehabt, mit ihm gefallen sey, und ihn im nächsten Wasser abgewaschen habe. Vornemlich sey der Kopf sehr voll Koth gewesen. Sein Vater, ein Bekker, bekümmerte sich um seine Erziehung wenig, die Mutter aber erzog ihn so gut sie konnte. Ein alter Chirurgus der wenig zu thun hatte, und in der Nachbarschaft wohnte, kam auf den Einfall, aus langer Weile den Knaben zu unterrichten, und beschäftigte sich fast täglich mit ihm. Anfangs schrieb er die Namen der Dinge, die er ihm zeigte, auf den Tisch, und brachte ihn endlich so weit, daß er schreiben und lesen konnte, und von den meisten Dingen ziemlich deutliche Begriffe erlangte; ob er gleich nicht ein Wort aussprechen lernte. Des Vaters Handwerk lernte er mehr vom Zusehen, und aus eignem Antriebe, als durch des Zur Seelennaturkunde. I. Moralitaͤt eines Taubstummen. Joh. Christian Hackenthal war seit seinem dritten Jahre taub und stumm. Seine Mutter erzaͤhlte daß er damals schon etwas habe sprechen, und ein paar kleine Gebete hersagen koͤnnen, als sie, indem sie ihn auf dem Arm gehabt, mit ihm gefallen sey, und ihn im naͤchsten Wasser abgewaschen habe. Vornemlich sey der Kopf sehr voll Koth gewesen. Sein Vater, ein Bekker, bekuͤmmerte sich um seine Erziehung wenig, die Mutter aber erzog ihn so gut sie konnte. Ein alter Chirurgus der wenig zu thun hatte, und in der Nachbarschaft wohnte, kam auf den Einfall, aus langer Weile den Knaben zu unterrichten, und beschaͤftigte sich fast taͤglich mit ihm. Anfangs schrieb er die Namen der Dinge, die er ihm zeigte, auf den Tisch, und brachte ihn endlich so weit, daß er schreiben und lesen konnte, und von den meisten Dingen ziemlich deutliche Begriffe erlangte; ob er gleich nicht ein Wort aussprechen lernte. Des Vaters Handwerk lernte er mehr vom Zusehen, und aus eignem Antriebe, als durch des <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <pb facs="#f0039" n="39"/><lb/><lb/> </div> </div> <div n="2"> <head>Zur Seelennaturkunde.</head><lb/> <div n="3"> <head><hi rendition="#aq">I</hi>. Moralitaͤt eines Taubstummen.</head><lb/> <note type="editorial"> <bibl> <persName ref="#ref64"><note type="editorial"/>Reiske, Ernestine Christiane</persName> </bibl> </note> <p>Joh. Christian Hackenthal war seit seinem dritten Jahre taub und stumm. Seine Mutter erzaͤhlte daß er damals schon etwas habe sprechen, und ein paar kleine Gebete hersagen koͤnnen, als sie, indem sie ihn auf dem Arm gehabt, mit ihm gefallen sey, und ihn im naͤchsten Wasser abgewaschen habe. Vornemlich sey der Kopf sehr voll Koth gewesen. Sein Vater, ein Bekker, bekuͤmmerte sich um seine Erziehung wenig, die Mutter aber erzog ihn so gut sie konnte. Ein alter Chirurgus der wenig zu thun hatte, und in der Nachbarschaft wohnte, kam auf den Einfall, aus langer Weile den Knaben zu unterrichten, und beschaͤftigte sich fast taͤglich mit ihm. Anfangs schrieb er die Namen der Dinge, die er ihm zeigte, auf den Tisch, und brachte ihn endlich so weit, daß er schreiben und lesen konnte, und von den meisten Dingen ziemlich deutliche Begriffe erlangte; ob er gleich nicht ein Wort aussprechen lernte. </p> <p>Des Vaters Handwerk lernte er mehr vom Zusehen, und aus eignem Antriebe, als durch des<lb/></p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [39/0039]
Zur Seelennaturkunde.
I. Moralitaͤt eines Taubstummen.
Joh. Christian Hackenthal war seit seinem dritten Jahre taub und stumm. Seine Mutter erzaͤhlte daß er damals schon etwas habe sprechen, und ein paar kleine Gebete hersagen koͤnnen, als sie, indem sie ihn auf dem Arm gehabt, mit ihm gefallen sey, und ihn im naͤchsten Wasser abgewaschen habe. Vornemlich sey der Kopf sehr voll Koth gewesen. Sein Vater, ein Bekker, bekuͤmmerte sich um seine Erziehung wenig, die Mutter aber erzog ihn so gut sie konnte. Ein alter Chirurgus der wenig zu thun hatte, und in der Nachbarschaft wohnte, kam auf den Einfall, aus langer Weile den Knaben zu unterrichten, und beschaͤftigte sich fast taͤglich mit ihm. Anfangs schrieb er die Namen der Dinge, die er ihm zeigte, auf den Tisch, und brachte ihn endlich so weit, daß er schreiben und lesen konnte, und von den meisten Dingen ziemlich deutliche Begriffe erlangte; ob er gleich nicht ein Wort aussprechen lernte.
Des Vaters Handwerk lernte er mehr vom Zusehen, und aus eignem Antriebe, als durch des
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