Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 3, St. 2. Berlin, 1785.
Doch warum laß ich ihn nicht selbst reden, da ohnehin Gedanken über die Vortheile der Selbstkenntniß nirgends besser Platz finden können, als in einem Werke, welches das gnothi sauton an der Stirne trägt? -- Hier sind also seine eignen Worte: "Jch will das nicht einmal anführen, in welche Verwirrung es den Menschen stürzt, wenn er sich unrichtig beurtheilt, und daß der Uebergang vom Guten zum Bösen gewöhnlich durch Selbstbetrug verursacht wird; nur das will ich bemerken: wie gewaltig müßte ein Geist nicht in allen andern Vollkommenheiten zunehmen, der seine Fähigkeiten, und den besten Gebrauch derselben, der die ganze Richtung seiner Neigungen völlig kennte! Wenn wir nur hier auf der Erde mit unsern Gedanken bleiben, was würde ein Mensch nicht ausrichten können, der eben keine außerordentlichen Naturgaben hätte, aber der diese "nun gerade auf das richtete, wozu sie eigentlich gestimmt sind; und seine Seelenstärke so wirken ließe, wie sie mit dem möglichstgrößten Erfolge wirken könnten! Dem ginge keine angewandte Bemühung verloren; seiner Seele ganze Kraft würde gehörig gebraucht, und er würde in diesem Stück dem ihm in diesem Leben erreichbaren Ziel nahe kommen, und das ist hoch. "Kennte ein Mensch seiner Neigungen wahre Richtung, so würde er jetzt schon wissen, wieviel
Doch warum laß ich ihn nicht selbst reden, da ohnehin Gedanken uͤber die Vortheile der Selbstkenntniß nirgends besser Platz finden koͤnnen, als in einem Werke, welches das γνωθι σαυτον an der Stirne traͤgt? — Hier sind also seine eignen Worte: »Jch will das nicht einmal anfuͤhren, in welche Verwirrung es den Menschen stuͤrzt, wenn er sich unrichtig beurtheilt, und daß der Uebergang vom Guten zum Boͤsen gewoͤhnlich durch Selbstbetrug verursacht wird; nur das will ich bemerken: wie gewaltig muͤßte ein Geist nicht in allen andern Vollkommenheiten zunehmen, der seine Faͤhigkeiten, und den besten Gebrauch derselben, der die ganze Richtung seiner Neigungen voͤllig kennte! Wenn wir nur hier auf der Erde mit unsern Gedanken bleiben, was wuͤrde ein Mensch nicht ausrichten koͤnnen, der eben keine außerordentlichen Naturgaben haͤtte, aber der diese »nun gerade auf das richtete, wozu sie eigentlich gestimmt sind; und seine Seelenstaͤrke so wirken ließe, wie sie mit dem moͤglichstgroͤßten Erfolge wirken koͤnnten! Dem ginge keine angewandte Bemuͤhung verloren; seiner Seele ganze Kraft wuͤrde gehoͤrig gebraucht, und er wuͤrde in diesem Stuͤck dem ihm in diesem Leben erreichbaren Ziel nahe kommen, und das ist hoch. »Kennte ein Mensch seiner Neigungen wahre Richtung, so wuͤrde er jetzt schon wissen, wieviel <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0064" n="64"/><lb/> ses Mittel zur Tugend, fuͤr das wahre Mittel zur moͤglichstgroͤßten Wirksamkeit eines jeden — </p> <p>Doch warum laß ich ihn nicht selbst reden, da ohnehin Gedanken uͤber die Vortheile der Selbstkenntniß nirgends besser Platz finden koͤnnen, als in einem Werke, welches das γνωθι σαυτον an der Stirne traͤgt? — Hier sind also seine eignen Worte: </p> <p>»Jch will das nicht einmal anfuͤhren, in welche Verwirrung es den Menschen stuͤrzt, wenn er sich unrichtig beurtheilt, und daß der Uebergang vom Guten zum Boͤsen gewoͤhnlich durch Selbstbetrug verursacht wird; nur das will ich bemerken: wie gewaltig muͤßte ein Geist nicht in allen andern Vollkommenheiten zunehmen, der seine Faͤhigkeiten, und den besten Gebrauch derselben, der die ganze Richtung seiner Neigungen voͤllig kennte! Wenn wir nur hier auf der Erde mit unsern Gedanken bleiben, was wuͤrde ein Mensch nicht ausrichten koͤnnen, der eben keine außerordentlichen Naturgaben haͤtte, aber der diese »nun gerade auf das richtete, wozu sie eigentlich gestimmt sind; und seine Seelenstaͤrke so wirken ließe, wie sie mit dem moͤglichstgroͤßten Erfolge wirken koͤnnten! Dem ginge keine angewandte Bemuͤhung verloren; seiner Seele ganze Kraft wuͤrde gehoͤrig gebraucht, und er wuͤrde in diesem Stuͤck dem ihm in diesem Leben erreichbaren Ziel nahe kommen, und das ist hoch. </p> <p>»Kennte ein Mensch seiner Neigungen wahre Richtung, so wuͤrde er jetzt schon wissen, wieviel<lb/></p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [64/0064]
ses Mittel zur Tugend, fuͤr das wahre Mittel zur moͤglichstgroͤßten Wirksamkeit eines jeden —
Doch warum laß ich ihn nicht selbst reden, da ohnehin Gedanken uͤber die Vortheile der Selbstkenntniß nirgends besser Platz finden koͤnnen, als in einem Werke, welches das γνωθι σαυτον an der Stirne traͤgt? — Hier sind also seine eignen Worte:
»Jch will das nicht einmal anfuͤhren, in welche Verwirrung es den Menschen stuͤrzt, wenn er sich unrichtig beurtheilt, und daß der Uebergang vom Guten zum Boͤsen gewoͤhnlich durch Selbstbetrug verursacht wird; nur das will ich bemerken: wie gewaltig muͤßte ein Geist nicht in allen andern Vollkommenheiten zunehmen, der seine Faͤhigkeiten, und den besten Gebrauch derselben, der die ganze Richtung seiner Neigungen voͤllig kennte! Wenn wir nur hier auf der Erde mit unsern Gedanken bleiben, was wuͤrde ein Mensch nicht ausrichten koͤnnen, der eben keine außerordentlichen Naturgaben haͤtte, aber der diese »nun gerade auf das richtete, wozu sie eigentlich gestimmt sind; und seine Seelenstaͤrke so wirken ließe, wie sie mit dem moͤglichstgroͤßten Erfolge wirken koͤnnten! Dem ginge keine angewandte Bemuͤhung verloren; seiner Seele ganze Kraft wuͤrde gehoͤrig gebraucht, und er wuͤrde in diesem Stuͤck dem ihm in diesem Leben erreichbaren Ziel nahe kommen, und das ist hoch.
»Kennte ein Mensch seiner Neigungen wahre Richtung, so wuͤrde er jetzt schon wissen, wieviel
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Zitationshilfe: | Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 3, St. 2. Berlin, 1785, S. 64. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_erfahrungsseelenkunde0302_1785/64>, abgerufen am 16.08.2024. |