Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 3, St. 2. Berlin, 1785.
Am nichtvergessenen 17ten Nov. 178-. Voller Freude wurde er, wie ich ihn gerührt dafür umarmte, und Zähren flossen unsere Wangen herab. Wie eine schöne Sommernacht verfloß dieser frohe Tag eilig, und ein neunstundenlanger Schlaf hatte meinen lieben Genesenden augenscheinlich erquicket. Voll Zufriedenheit erwacht führte ich ihn am 64sten Morgen zum erstenmal in unser Wohnzimmer, wo ihm alles neu war; voll Vergnügen besah er die darin hängenden Bilder und ließ überhaupt viele Neubegierde blicken, sah alles durch, doch hielt er sich bei keinem lange auf. Jch ließ ihn laut lesen, welches mit Bedacht und Empfindung des Jnhalts geschah, nur zu geschwind und mit zu lauter Stimme, die aber ihm angemessen der Sache schien. Eine der vorigen ruhigen Nacht gleiche erfolgte hierauf, und so zwey ähnliche Tage; außer daß er den zweiten Abend, da er Griechisch und Latein mit Emphasi einige Zeit las, und die Mutter ihn davon abrieth, weil diese Beschäftigung noch zu zeitig und zu ernsthaft sey, verdrießlich wurde und in seine Stube verlangte, auch, da ich bei seinem Abendessen verblieb, darüber mit selbiger noch immer haderte; so wie ich bei dieser Gelegenheit eine wi-
Am nichtvergessenen 17ten Nov. 178-. Voller Freude wurde er, wie ich ihn geruͤhrt dafuͤr umarmte, und Zaͤhren flossen unsere Wangen herab. Wie eine schoͤne Sommernacht verfloß dieser frohe Tag eilig, und ein neunstundenlanger Schlaf hatte meinen lieben Genesenden augenscheinlich erquicket. Voll Zufriedenheit erwacht fuͤhrte ich ihn am 64sten Morgen zum erstenmal in unser Wohnzimmer, wo ihm alles neu war; voll Vergnuͤgen besah er die darin haͤngenden Bilder und ließ uͤberhaupt viele Neubegierde blicken, sah alles durch, doch hielt er sich bei keinem lange auf. Jch ließ ihn laut lesen, welches mit Bedacht und Empfindung des Jnhalts geschah, nur zu geschwind und mit zu lauter Stimme, die aber ihm angemessen der Sache schien. Eine der vorigen ruhigen Nacht gleiche erfolgte hierauf, und so zwey aͤhnliche Tage; außer daß er den zweiten Abend, da er Griechisch und Latein mit Emphasi einige Zeit las, und die Mutter ihn davon abrieth, weil diese Beschaͤftigung noch zu zeitig und zu ernsthaft sey, verdrießlich wurde und in seine Stube verlangte, auch, da ich bei seinem Abendessen verblieb, daruͤber mit selbiger noch immer haderte; so wie ich bei dieser Gelegenheit eine wi- <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <lg type="poem"> <lg n="2"> <pb facs="#f0049" n="49"/><lb/> <l>Der Winter des Lebens!</l><lb/> <l>Nicht sey er vergebens,</l><lb/> <l>Mein Herzenswunsch!</l><lb/> <l>O, traͤf er doch ein!</l><lb/> <l>Wie froh wollt' ich seyn.</l> </lg> <closer> <dateline>Am nichtvergessenen 17ten Nov. 178-.</dateline> </closer> </lg> <p>Voller Freude wurde er, wie ich ihn geruͤhrt dafuͤr umarmte, und Zaͤhren flossen unsere Wangen herab. Wie eine schoͤne Sommernacht verfloß dieser frohe Tag eilig, und ein neunstundenlanger Schlaf hatte meinen lieben Genesenden augenscheinlich erquicket. Voll Zufriedenheit erwacht fuͤhrte ich ihn am 64sten Morgen zum erstenmal in unser Wohnzimmer, wo ihm alles neu war; voll Vergnuͤgen besah er die darin haͤngenden Bilder und ließ uͤberhaupt viele Neubegierde blicken, sah alles durch, doch hielt er sich bei keinem lange auf. Jch ließ ihn laut lesen, welches mit Bedacht und Empfindung des Jnhalts geschah, nur zu geschwind und mit zu lauter Stimme, die aber ihm angemessen der Sache schien. </p> <p>Eine der vorigen ruhigen Nacht gleiche erfolgte hierauf, und so zwey aͤhnliche Tage; außer daß er den zweiten Abend, da er Griechisch und Latein mit Emphasi einige Zeit las, und die Mutter ihn davon abrieth, weil diese Beschaͤftigung noch zu zeitig und zu ernsthaft sey, verdrießlich wurde und in seine Stube verlangte, auch, da ich bei seinem Abendessen verblieb, daruͤber mit selbiger noch immer haderte; so wie ich bei dieser Gelegenheit eine wi-<lb/></p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [49/0049]
Der Winter des Lebens!
Nicht sey er vergebens,
Mein Herzenswunsch!
O, traͤf er doch ein!
Wie froh wollt' ich seyn.
Am nichtvergessenen 17ten Nov. 178-.
Voller Freude wurde er, wie ich ihn geruͤhrt dafuͤr umarmte, und Zaͤhren flossen unsere Wangen herab. Wie eine schoͤne Sommernacht verfloß dieser frohe Tag eilig, und ein neunstundenlanger Schlaf hatte meinen lieben Genesenden augenscheinlich erquicket. Voll Zufriedenheit erwacht fuͤhrte ich ihn am 64sten Morgen zum erstenmal in unser Wohnzimmer, wo ihm alles neu war; voll Vergnuͤgen besah er die darin haͤngenden Bilder und ließ uͤberhaupt viele Neubegierde blicken, sah alles durch, doch hielt er sich bei keinem lange auf. Jch ließ ihn laut lesen, welches mit Bedacht und Empfindung des Jnhalts geschah, nur zu geschwind und mit zu lauter Stimme, die aber ihm angemessen der Sache schien.
Eine der vorigen ruhigen Nacht gleiche erfolgte hierauf, und so zwey aͤhnliche Tage; außer daß er den zweiten Abend, da er Griechisch und Latein mit Emphasi einige Zeit las, und die Mutter ihn davon abrieth, weil diese Beschaͤftigung noch zu zeitig und zu ernsthaft sey, verdrießlich wurde und in seine Stube verlangte, auch, da ich bei seinem Abendessen verblieb, daruͤber mit selbiger noch immer haderte; so wie ich bei dieser Gelegenheit eine wi-
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Zitationshilfe: | Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 3, St. 2. Berlin, 1785, S. 49. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_erfahrungsseelenkunde0302_1785/49>, abgerufen am 16.07.2024. |