Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 3, St. 2. Berlin, 1785.
Bei dergleichen Paroxismen genoß sie nichts, außer etwas rohe Erbsen, Hafer oder Weitzen, von welchem Getreide sie immer in ihrem Koffer vorräthig hatte, und oft hat sie zu vierzehn Tagen ohne alle Nahrung zugebracht; schickten wärend dieser Zeit ihr gute Freunde etwas zu essen, so nahm sie es zwar an, aß aber nicht davon, oft aber warf sie es auch dem Ueberbringer nach; eben so wenig sprach sie mit jemand, da sie doch sonst sehr gesprächig gewesen war; sobald sie aber des Abends zu Bette ging, ward sie laut, sang bald geistliche Lieder, bald Arien, sprach viel mit ihrem Liebhaber, änderte die Stimme, als wenn man ihr antwortete, sang alle Stunden dem Nachtwächter nach, und blieb so unruhig bis gegen Morgen, wo sie denn wieder stille ward, außer, daß wenn die Schwester ihr zuredete, sie selbige mit Schimpf und Fluchworten von sich wieß. Bei diesem starken Paroxismus saß sie beständig in einer sehr unbequemen Stellung auf einem Stuhle, so daß sie die Füße
Bei dergleichen Paroxismen genoß sie nichts, außer etwas rohe Erbsen, Hafer oder Weitzen, von welchem Getreide sie immer in ihrem Koffer vorraͤthig hatte, und oft hat sie zu vierzehn Tagen ohne alle Nahrung zugebracht; schickten waͤrend dieser Zeit ihr gute Freunde etwas zu essen, so nahm sie es zwar an, aß aber nicht davon, oft aber warf sie es auch dem Ueberbringer nach; eben so wenig sprach sie mit jemand, da sie doch sonst sehr gespraͤchig gewesen war; sobald sie aber des Abends zu Bette ging, ward sie laut, sang bald geistliche Lieder, bald Arien, sprach viel mit ihrem Liebhaber, aͤnderte die Stimme, als wenn man ihr antwortete, sang alle Stunden dem Nachtwaͤchter nach, und blieb so unruhig bis gegen Morgen, wo sie denn wieder stille ward, außer, daß wenn die Schwester ihr zuredete, sie selbige mit Schimpf und Fluchworten von sich wieß. Bei diesem starken Paroxismus saß sie bestaͤndig in einer sehr unbequemen Stellung auf einem Stuhle, so daß sie die Fuͤße <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0122" n="122"/><lb/> aber war sie auch viele Monate ganz ohne Verstand, sprach bloß von ihren Liebhabern, die sich um sie betruͤbten, nennte ihre Anzuͤge, und bot allen, die ihre Schwestern besuchten, einen oder den andern an, nur den rothgekleideten, bat sie, ihr nicht zu nehmen; vermuthlich mußte ihr erster Liebhaber so gekleidet gewesen seyn.</p> <p>Bei dergleichen Paroxismen genoß sie nichts, außer etwas rohe Erbsen, Hafer oder Weitzen, von welchem Getreide sie immer in ihrem Koffer vorraͤthig hatte, und oft hat sie zu vierzehn Tagen ohne alle Nahrung zugebracht; schickten waͤrend dieser Zeit ihr gute Freunde etwas zu essen, so nahm sie es zwar an, aß aber nicht davon, oft aber warf sie es auch dem Ueberbringer nach; eben so wenig sprach sie mit jemand, da sie doch sonst sehr gespraͤchig gewesen war; sobald sie aber des Abends zu Bette ging, ward sie laut, sang bald geistliche Lieder, bald Arien, sprach viel mit ihrem Liebhaber, aͤnderte die Stimme, als wenn man ihr antwortete, sang alle Stunden dem Nachtwaͤchter nach, und blieb so unruhig bis gegen Morgen, wo sie denn wieder stille ward, außer, daß wenn die Schwester ihr zuredete, sie selbige mit Schimpf und Fluchworten von sich wieß. </p> <p>Bei diesem starken Paroxismus saß sie bestaͤndig in einer sehr unbequemen Stellung auf einem Stuhle, so daß sie die Fuͤße<lb/></p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [122/0122]
aber war sie auch viele Monate ganz ohne Verstand, sprach bloß von ihren Liebhabern, die sich um sie betruͤbten, nennte ihre Anzuͤge, und bot allen, die ihre Schwestern besuchten, einen oder den andern an, nur den rothgekleideten, bat sie, ihr nicht zu nehmen; vermuthlich mußte ihr erster Liebhaber so gekleidet gewesen seyn.
Bei dergleichen Paroxismen genoß sie nichts, außer etwas rohe Erbsen, Hafer oder Weitzen, von welchem Getreide sie immer in ihrem Koffer vorraͤthig hatte, und oft hat sie zu vierzehn Tagen ohne alle Nahrung zugebracht; schickten waͤrend dieser Zeit ihr gute Freunde etwas zu essen, so nahm sie es zwar an, aß aber nicht davon, oft aber warf sie es auch dem Ueberbringer nach; eben so wenig sprach sie mit jemand, da sie doch sonst sehr gespraͤchig gewesen war; sobald sie aber des Abends zu Bette ging, ward sie laut, sang bald geistliche Lieder, bald Arien, sprach viel mit ihrem Liebhaber, aͤnderte die Stimme, als wenn man ihr antwortete, sang alle Stunden dem Nachtwaͤchter nach, und blieb so unruhig bis gegen Morgen, wo sie denn wieder stille ward, außer, daß wenn die Schwester ihr zuredete, sie selbige mit Schimpf und Fluchworten von sich wieß.
Bei diesem starken Paroxismus saß sie bestaͤndig in einer sehr unbequemen Stellung auf einem Stuhle, so daß sie die Fuͤße
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Zitationshilfe: | Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 3, St. 2. Berlin, 1785, S. 122. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_erfahrungsseelenkunde0302_1785/122>, abgerufen am 15.08.2024. |