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Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 3, St. 2. Berlin, 1785.

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Seine Blätter werden alt, Und doch niemals ungestalt. Gott giebt Glück zu seinen Thaten, Was er macht muß wohlgerathen.

Mehr noch als bei allem fühlte ich bei dem Worte: Und doch niemals ungestalt, wo ein beruhigender Uebergang der Harmonie ist, und wo sich der Gesang aus dem feierlichen Mollton mit ungemeiner Kühnheit in den zunächst verwandten Durton auflöst. Freilich versteht sich, daß ich mir das jetzt denke, was damals nur dunkle Empfindung war. Aber es rührte mich doch vorzüglich, und noch jetzt singe und spiele ich mir die Stelle mit mehr Wohlgefallen, als sich von der simpeln Wirkung eines gut aufgelösten Akkords erwarten läßt; es drängen sich mir alle die Jdeen von meiner Kindheit auf, wo mir jeder Gegenstand der ewig schönen Schöpfung noch neu war, und diese Neuheit einem jeden Gegenstand einen Reiz gab, der mit jedem Genusse schwächer wird. -- Vorzüglich erinnerlich ist mir noch dieses -- und das vermehrte die Stärke des Eindrucks. -- Wie ich so im besten Singen begriffen war, befand ich mich unter einem großen Nußbaum. Ein heftiger Herbstwind, der den ganzen Tag über anhielt, rauschte stark in die dürren Baumblätter, und ich stand mitten in lauter gelben Nußblättern. Das


Seine Blaͤtter werden alt, Und doch niemals ungestalt. Gott giebt Gluͤck zu seinen Thaten, Was er macht muß wohlgerathen.

Mehr noch als bei allem fuͤhlte ich bei dem Worte: Und doch niemals ungestalt, wo ein beruhigender Uebergang der Harmonie ist, und wo sich der Gesang aus dem feierlichen Mollton mit ungemeiner Kuͤhnheit in den zunaͤchst verwandten Durton aufloͤst. Freilich versteht sich, daß ich mir das jetzt denke, was damals nur dunkle Empfindung war. Aber es ruͤhrte mich doch vorzuͤglich, und noch jetzt singe und spiele ich mir die Stelle mit mehr Wohlgefallen, als sich von der simpeln Wirkung eines gut aufgeloͤsten Akkords erwarten laͤßt; es draͤngen sich mir alle die Jdeen von meiner Kindheit auf, wo mir jeder Gegenstand der ewig schoͤnen Schoͤpfung noch neu war, und diese Neuheit einem jeden Gegenstand einen Reiz gab, der mit jedem Genusse schwaͤcher wird. — Vorzuͤglich erinnerlich ist mir noch dieses — und das vermehrte die Staͤrke des Eindrucks. — Wie ich so im besten Singen begriffen war, befand ich mich unter einem großen Nußbaum. Ein heftiger Herbstwind, der den ganzen Tag uͤber anhielt, rauschte stark in die duͤrren Baumblaͤtter, und ich stand mitten in lauter gelben Nußblaͤttern. Das

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[106/0106] Seine Blaͤtter werden alt, Und doch niemals ungestalt. Gott giebt Gluͤck zu seinen Thaten, Was er macht muß wohlgerathen. Mehr noch als bei allem fuͤhlte ich bei dem Worte: Und doch niemals ungestalt, wo ein beruhigender Uebergang der Harmonie ist, und wo sich der Gesang aus dem feierlichen Mollton mit ungemeiner Kuͤhnheit in den zunaͤchst verwandten Durton aufloͤst. Freilich versteht sich, daß ich mir das jetzt denke, was damals nur dunkle Empfindung war. Aber es ruͤhrte mich doch vorzuͤglich, und noch jetzt singe und spiele ich mir die Stelle mit mehr Wohlgefallen, als sich von der simpeln Wirkung eines gut aufgeloͤsten Akkords erwarten laͤßt; es draͤngen sich mir alle die Jdeen von meiner Kindheit auf, wo mir jeder Gegenstand der ewig schoͤnen Schoͤpfung noch neu war, und diese Neuheit einem jeden Gegenstand einen Reiz gab, der mit jedem Genusse schwaͤcher wird. — Vorzuͤglich erinnerlich ist mir noch dieses — und das vermehrte die Staͤrke des Eindrucks. — Wie ich so im besten Singen begriffen war, befand ich mich unter einem großen Nußbaum. Ein heftiger Herbstwind, der den ganzen Tag uͤber anhielt, rauschte stark in die duͤrren Baumblaͤtter, und ich stand mitten in lauter gelben Nußblaͤttern. Das

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Zitationshilfe: Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 3, St. 2. Berlin, 1785, S. 106. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_erfahrungsseelenkunde0302_1785/106>, abgerufen am 27.11.2024.