Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 3, St. 1. Berlin, 1785.
4) Unsere Vorstellungen, und die Art und Neigung, sie durch Worte auszudrücken, haben bei ihrer Entstehung in den Jahren der Kindheit eine, wie mich dünkt, merkwürdige Beziehung auf die Größe unseres Körpers. Dieser ist gleichsam unser erster Maasstab der Gegenstände, die wir um uns her wahrnehmen, was ihn nicht angeht, was für ihn zu groß, zu ungeheuer ist, damit beschäftigt sich auch die Seele des Kindes nicht. Man sieht es täglich, daß Kinder am liebsten ihre Aufmerksamkeit auf solche Sachen richten, und zunächst für sie Ausdrücke suchen, deren Größe nicht weit über die ihres Körpers hinausragt. Wir haben die sonderbare Empfindung -- so wie überhaupt die ganze erste Entstehungsart unserer Jdeen -- vergessen, nach welcher uns alle Gegenstände um uns her, wegen der Kleinheit unseres Körpers wahrscheinlich viel größer und ungestalteter vorkommen mußten, als sie uns jetzt erscheinen; wie Erwachsene noch ungeheure Riesen gegen uns, die Häuser noch eine Art hoher Gebürge in unsern
4) Unsere Vorstellungen, und die Art und Neigung, sie durch Worte auszudruͤcken, haben bei ihrer Entstehung in den Jahren der Kindheit eine, wie mich duͤnkt, merkwuͤrdige Beziehung auf die Groͤße unseres Koͤrpers. Dieser ist gleichsam unser erster Maasstab der Gegenstaͤnde, die wir um uns her wahrnehmen, was ihn nicht angeht, was fuͤr ihn zu groß, zu ungeheuer ist, damit beschaͤftigt sich auch die Seele des Kindes nicht. Man sieht es taͤglich, daß Kinder am liebsten ihre Aufmerksamkeit auf solche Sachen richten, und zunaͤchst fuͤr sie Ausdruͤcke suchen, deren Groͤße nicht weit uͤber die ihres Koͤrpers hinausragt. Wir haben die sonderbare Empfindung — so wie uͤberhaupt die ganze erste Entstehungsart unserer Jdeen — vergessen, nach welcher uns alle Gegenstaͤnde um uns her, wegen der Kleinheit unseres Koͤrpers wahrscheinlich viel groͤßer und ungestalteter vorkommen mußten, als sie uns jetzt erscheinen; wie Erwachsene noch ungeheure Riesen gegen uns, die Haͤuser noch eine Art hoher Gebuͤrge in unsern <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0086" n="84"/><lb/> auszusprechen, als es dasselbe gehoͤrt hat, und daß ihm eben deswegen diejenigen Woͤrter am willkommensten sind, die eine weiche Aussprache haben. Kinder reden daher am liebsten in <hi rendition="#b">Diminutiven,</hi> und ihre Waͤrterinnen ergreifen durch dergleichen weiche Sprachwoͤrter einen bequemen Weg, sie ans Reden zu gewoͤhnen, ob sie wohl gleich niemals uͤber diese gute Methode philosophirt haben moͤgen. </p> <p>4) Unsere <hi rendition="#b">Vorstellungen,</hi> und die <hi rendition="#b">Art</hi> und <hi rendition="#b">Neigung,</hi> sie durch Worte auszudruͤcken, haben bei ihrer Entstehung in den Jahren der Kindheit eine, wie mich duͤnkt, merkwuͤrdige <hi rendition="#b">Beziehung</hi> auf <hi rendition="#b">die Groͤße</hi> unseres Koͤrpers. Dieser ist gleichsam unser erster Maasstab der Gegenstaͤnde, die wir um uns her wahrnehmen, was ihn nicht angeht, was fuͤr ihn <hi rendition="#b">zu groß,</hi> zu <hi rendition="#b">ungeheuer</hi> ist, damit beschaͤftigt sich auch die Seele des Kindes nicht. Man sieht es taͤglich, daß Kinder am liebsten ihre Aufmerksamkeit <hi rendition="#b">auf solche Sachen</hi> richten, und <hi rendition="#b">zunaͤchst fuͤr sie Ausdruͤcke</hi> suchen, deren Groͤße nicht weit uͤber die ihres Koͤrpers hinausragt. </p> <p>Wir haben die sonderbare Empfindung — so wie uͤberhaupt die ganze erste Entstehungsart unserer Jdeen — vergessen, nach welcher uns alle Gegenstaͤnde um uns her, wegen der <hi rendition="#b">Kleinheit</hi> unseres Koͤrpers wahrscheinlich viel groͤßer und ungestalteter vorkommen mußten, als sie uns jetzt erscheinen; wie Erwachsene noch ungeheure Riesen gegen uns, die Haͤuser noch eine Art hoher Gebuͤrge in unsern<lb/></p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [84/0086]
auszusprechen, als es dasselbe gehoͤrt hat, und daß ihm eben deswegen diejenigen Woͤrter am willkommensten sind, die eine weiche Aussprache haben. Kinder reden daher am liebsten in Diminutiven, und ihre Waͤrterinnen ergreifen durch dergleichen weiche Sprachwoͤrter einen bequemen Weg, sie ans Reden zu gewoͤhnen, ob sie wohl gleich niemals uͤber diese gute Methode philosophirt haben moͤgen.
4) Unsere Vorstellungen, und die Art und Neigung, sie durch Worte auszudruͤcken, haben bei ihrer Entstehung in den Jahren der Kindheit eine, wie mich duͤnkt, merkwuͤrdige Beziehung auf die Groͤße unseres Koͤrpers. Dieser ist gleichsam unser erster Maasstab der Gegenstaͤnde, die wir um uns her wahrnehmen, was ihn nicht angeht, was fuͤr ihn zu groß, zu ungeheuer ist, damit beschaͤftigt sich auch die Seele des Kindes nicht. Man sieht es taͤglich, daß Kinder am liebsten ihre Aufmerksamkeit auf solche Sachen richten, und zunaͤchst fuͤr sie Ausdruͤcke suchen, deren Groͤße nicht weit uͤber die ihres Koͤrpers hinausragt.
Wir haben die sonderbare Empfindung — so wie uͤberhaupt die ganze erste Entstehungsart unserer Jdeen — vergessen, nach welcher uns alle Gegenstaͤnde um uns her, wegen der Kleinheit unseres Koͤrpers wahrscheinlich viel groͤßer und ungestalteter vorkommen mußten, als sie uns jetzt erscheinen; wie Erwachsene noch ungeheure Riesen gegen uns, die Haͤuser noch eine Art hoher Gebuͤrge in unsern
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Zitationshilfe: | Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 3, St. 1. Berlin, 1785, S. 84. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_erfahrungsseelenkunde0301_1785/86>, abgerufen am 15.08.2024. |