Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 3, St. 1. Berlin, 1785.Wenn also meiner Freundin bey der Trennung von ihrem Verwandten der Gedanke aufstieg, daß ihm ein Unglück begegnen würde, so war dieß sowohl dem jetzigen Auftritt, als dem dießmaligen Zustande ihres Gemüths gemäß, weil sich die Seele nach einer bekannten psychologischen Beobachtung gern aller der Jdeen bemächtigt, die mit ihrer jedesmaligen Lage übereinstimmen. Daß aber der Gedanke soviel Lebhaftigkeit und Gewißheit bey ihr gewann, war eine natürliche Folge ihres Charakters und ihres jetzt so äußerst lebhaften Gemüthszustandes. Zwar trafen ihre beyden Vermuthungen ein, allein dieß kümmert mich wenig, denn das geschahe gewiß sehr zufällig. Auf einem Planeten, wie der unsrige, wo unangenehme Vorfälle sogar nichts seltenes sind, darf jemand durch diese oder jene Umstände nur oft in die Lage gesetzt werden, zukünftige Uebel zu vermuthen, so werden seine Vermuthungen auch gewiß sehr oft eintreffen. Es ist damit eben, wie mit dem Argwöhnischen. Ein solcher Mensch, der niemand traut, und die Rechtschaffenheit eines jeden in Zweifel zieht, trift ganz natürlich, da es eine so grosse Menge schlechtdenkender Menschen giebt, seinen Argwohn sehr oft gegründet, aber niemand hält ihn deshalb für einen Propheten, oder glaubt, daß er die Sinnesart al- Wenn also meiner Freundin bey der Trennung von ihrem Verwandten der Gedanke aufstieg, daß ihm ein Ungluͤck begegnen wuͤrde, so war dieß sowohl dem jetzigen Auftritt, als dem dießmaligen Zustande ihres Gemuͤths gemaͤß, weil sich die Seele nach einer bekannten psychologischen Beobachtung gern aller der Jdeen bemaͤchtigt, die mit ihrer jedesmaligen Lage uͤbereinstimmen. Daß aber der Gedanke soviel Lebhaftigkeit und Gewißheit bey ihr gewann, war eine natuͤrliche Folge ihres Charakters und ihres jetzt so aͤußerst lebhaften Gemuͤthszustandes. Zwar trafen ihre beyden Vermuthungen ein, allein dieß kuͤmmert mich wenig, denn das geschahe gewiß sehr zufaͤllig. Auf einem Planeten, wie der unsrige, wo unangenehme Vorfaͤlle sogar nichts seltenes sind, darf jemand durch diese oder jene Umstaͤnde nur oft in die Lage gesetzt werden, zukuͤnftige Uebel zu vermuthen, so werden seine Vermuthungen auch gewiß sehr oft eintreffen. Es ist damit eben, wie mit dem Argwoͤhnischen. Ein solcher Mensch, der niemand traut, und die Rechtschaffenheit eines jeden in Zweifel zieht, trift ganz natuͤrlich, da es eine so grosse Menge schlechtdenkender Menschen giebt, seinen Argwohn sehr oft gegruͤndet, aber niemand haͤlt ihn deshalb fuͤr einen Propheten, oder glaubt, daß er die Sinnesart al- <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <pb facs="#f0074" n="72"/><lb/> <p>Wenn also meiner Freundin bey der Trennung von ihrem Verwandten der Gedanke aufstieg, daß ihm ein Ungluͤck begegnen wuͤrde, so war dieß sowohl dem jetzigen Auftritt, als dem dießmaligen Zustande ihres Gemuͤths gemaͤß, weil sich die Seele nach einer bekannten psychologischen Beobachtung gern aller der Jdeen bemaͤchtigt, die mit ihrer jedesmaligen Lage uͤbereinstimmen. Daß aber der Gedanke soviel Lebhaftigkeit und Gewißheit bey ihr gewann, war eine natuͤrliche Folge ihres Charakters und ihres jetzt so aͤußerst lebhaften Gemuͤthszustandes. </p> <p>Zwar trafen ihre beyden Vermuthungen ein, allein dieß kuͤmmert mich wenig, denn das geschahe gewiß sehr zufaͤllig. Auf einem Planeten, wie der unsrige, wo unangenehme Vorfaͤlle sogar nichts seltenes sind, darf jemand durch diese oder jene Umstaͤnde nur oft in die Lage gesetzt werden, zukuͤnftige Uebel zu vermuthen, so werden seine Vermuthungen auch gewiß sehr oft eintreffen. </p> <p>Es ist damit eben, wie mit dem Argwoͤhnischen. Ein solcher Mensch, der niemand traut, und die Rechtschaffenheit eines jeden in Zweifel zieht, trift ganz natuͤrlich, da es eine so grosse Menge schlechtdenkender Menschen giebt, seinen Argwohn sehr oft gegruͤndet, aber niemand haͤlt ihn deshalb fuͤr einen Propheten, oder glaubt, daß er die Sinnesart al-<lb/></p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [72/0074]
Wenn also meiner Freundin bey der Trennung von ihrem Verwandten der Gedanke aufstieg, daß ihm ein Ungluͤck begegnen wuͤrde, so war dieß sowohl dem jetzigen Auftritt, als dem dießmaligen Zustande ihres Gemuͤths gemaͤß, weil sich die Seele nach einer bekannten psychologischen Beobachtung gern aller der Jdeen bemaͤchtigt, die mit ihrer jedesmaligen Lage uͤbereinstimmen. Daß aber der Gedanke soviel Lebhaftigkeit und Gewißheit bey ihr gewann, war eine natuͤrliche Folge ihres Charakters und ihres jetzt so aͤußerst lebhaften Gemuͤthszustandes.
Zwar trafen ihre beyden Vermuthungen ein, allein dieß kuͤmmert mich wenig, denn das geschahe gewiß sehr zufaͤllig. Auf einem Planeten, wie der unsrige, wo unangenehme Vorfaͤlle sogar nichts seltenes sind, darf jemand durch diese oder jene Umstaͤnde nur oft in die Lage gesetzt werden, zukuͤnftige Uebel zu vermuthen, so werden seine Vermuthungen auch gewiß sehr oft eintreffen.
Es ist damit eben, wie mit dem Argwoͤhnischen. Ein solcher Mensch, der niemand traut, und die Rechtschaffenheit eines jeden in Zweifel zieht, trift ganz natuͤrlich, da es eine so grosse Menge schlechtdenkender Menschen giebt, seinen Argwohn sehr oft gegruͤndet, aber niemand haͤlt ihn deshalb fuͤr einen Propheten, oder glaubt, daß er die Sinnesart al-
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Zitationshilfe: | Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 3, St. 1. Berlin, 1785, S. 72. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_erfahrungsseelenkunde0301_1785/74>, abgerufen am 17.02.2025. |