Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 3, St. 1. Berlin, 1785.
Dabei hatte sie vermöge ihres Temperaments einen starken Hang zur Melancholie, vertiefte sich oft stundenlang in düstre Betrachtungen, ohne daß sie vermogte jederzeit einen Grund von ihrer Traurigkeit anzugeben. Uebrigens war sie in Gesellschaften oft sehr munter und mittheilend, so daß man sich keinen angenehmern Umgang, als den ihrigen, wünschen konnte. Jch mogte ungefähr etwas über ein Vierteljahr in ihrem Hause bekannt gewesen seyn, als ich einen seltsamen Auftritt mit beiwohnte. Ein junger sehr naher Verwandter von ihr, den sie sehr liebte, hatte sie von L... aus, wo er studirte, auf einige Wochen besucht. Den Tag vor seiner Abreise war sie ungewöhnlich traurig, und wurde es immer mehr, je näher der Abschied heranrückte.
Dabei hatte sie vermoͤge ihres Temperaments einen starken Hang zur Melancholie, vertiefte sich oft stundenlang in duͤstre Betrachtungen, ohne daß sie vermogte jederzeit einen Grund von ihrer Traurigkeit anzugeben. Uebrigens war sie in Gesellschaften oft sehr munter und mittheilend, so daß man sich keinen angenehmern Umgang, als den ihrigen, wuͤnschen konnte. Jch mogte ungefaͤhr etwas uͤber ein Vierteljahr in ihrem Hause bekannt gewesen seyn, als ich einen seltsamen Auftritt mit beiwohnte. Ein junger sehr naher Verwandter von ihr, den sie sehr liebte, hatte sie von L... aus, wo er studirte, auf einige Wochen besucht. Den Tag vor seiner Abreise war sie ungewoͤhnlich traurig, und wurde es immer mehr, je naͤher der Abschied heranruͤckte. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0059" n="57"/><lb/> wie angenehm mir's seyn mußte, als sich mir vor einigen Jahren eine Gelegenheit darbot, einige Erfahrungen hieruͤber zu machen. Jch wurde nemlich mit einer Frau bekannt, die mich in der Folge durch so manche sonderbare Auftritte oft in Verwunderung gesetzt hat, und deren Bekanntschaft mir in dieser Ruͤcksicht immer merkwuͤrdig seyn wird. Sie war eine Frau im mittlern Alter, von gesetztem Charakter, gutem Verstande, und was ich immer an ihr bewunderte, ziemlich frei von Vorurtheilen und Aberglauben. </p> <p>Dabei hatte sie vermoͤge ihres Temperaments einen starken Hang zur Melancholie, vertiefte sich oft stundenlang in duͤstre Betrachtungen, ohne daß sie vermogte jederzeit einen Grund von ihrer Traurigkeit anzugeben. Uebrigens war sie in Gesellschaften oft sehr munter und mittheilend, so daß man sich keinen angenehmern Umgang, als den ihrigen, wuͤnschen konnte. </p> <p>Jch mogte ungefaͤhr etwas uͤber ein Vierteljahr in ihrem Hause bekannt gewesen seyn, als ich einen seltsamen Auftritt mit beiwohnte. </p> <p>Ein junger sehr naher Verwandter von ihr, den sie sehr liebte, hatte sie von L... aus, wo er studirte, auf einige Wochen besucht. Den Tag vor seiner Abreise war sie ungewoͤhnlich traurig, und wurde es immer mehr, je naͤher der Abschied heranruͤckte. </p><lb/> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [57/0059]
wie angenehm mir's seyn mußte, als sich mir vor einigen Jahren eine Gelegenheit darbot, einige Erfahrungen hieruͤber zu machen. Jch wurde nemlich mit einer Frau bekannt, die mich in der Folge durch so manche sonderbare Auftritte oft in Verwunderung gesetzt hat, und deren Bekanntschaft mir in dieser Ruͤcksicht immer merkwuͤrdig seyn wird. Sie war eine Frau im mittlern Alter, von gesetztem Charakter, gutem Verstande, und was ich immer an ihr bewunderte, ziemlich frei von Vorurtheilen und Aberglauben.
Dabei hatte sie vermoͤge ihres Temperaments einen starken Hang zur Melancholie, vertiefte sich oft stundenlang in duͤstre Betrachtungen, ohne daß sie vermogte jederzeit einen Grund von ihrer Traurigkeit anzugeben. Uebrigens war sie in Gesellschaften oft sehr munter und mittheilend, so daß man sich keinen angenehmern Umgang, als den ihrigen, wuͤnschen konnte.
Jch mogte ungefaͤhr etwas uͤber ein Vierteljahr in ihrem Hause bekannt gewesen seyn, als ich einen seltsamen Auftritt mit beiwohnte.
Ein junger sehr naher Verwandter von ihr, den sie sehr liebte, hatte sie von L... aus, wo er studirte, auf einige Wochen besucht. Den Tag vor seiner Abreise war sie ungewoͤhnlich traurig, und wurde es immer mehr, je naͤher der Abschied heranruͤckte.
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Zitationshilfe: | Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 3, St. 1. Berlin, 1785, S. 57. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_erfahrungsseelenkunde0301_1785/59>, abgerufen am 15.08.2024. |