Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 3, St. 1. Berlin, 1785.
Jch bemerk' es jetzt deutlich, daß Jahre lang anhaltende Leiden die menschliche Seele muthlos machen. Dieses Vertrauen wird noch durch andere Zweifel geschwächt. Mir scheint es ganz unnöthig, und selbst der Ehre Gottes zuwider, daß ich ihn um etwas bitten soll. Weiß er, als der Allwissende, denn nicht, was mir mangelt? Oder ist er (verzeih Allbarmherziger, wenn ich irre!) zu hart, oder so ehrbegierig, daß ich ihn erst durch vieles Bitten erweichen und bewegen muß, mir seine Wohlthaten zufließen zu lassen? Und verdunkelt das nicht seine göttlichen Eigenschaften? Jst
Jch bemerk' es jetzt deutlich, daß Jahre lang anhaltende Leiden die menschliche Seele muthlos machen. Dieses Vertrauen wird noch durch andere Zweifel geschwaͤcht. Mir scheint es ganz unnoͤthig, und selbst der Ehre Gottes zuwider, daß ich ihn um etwas bitten soll. Weiß er, als der Allwissende, denn nicht, was mir mangelt? Oder ist er (verzeih Allbarmherziger, wenn ich irre!) zu hart, oder so ehrbegierig, daß ich ihn erst durch vieles Bitten erweichen und bewegen muß, mir seine Wohlthaten zufließen zu lassen? Und verdunkelt das nicht seine goͤttlichen Eigenschaften? Jst <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0037" n="35"/><lb/><hi rendition="#b">Vertrauen auf die goͤttliche Huͤlfe</hi> ist im Grunde nichts anders, als: <hi rendition="#b">Hofnung der baldigen Aendrung seines Schicksaals.</hi> Diese verschwindet bald, wenn das Uebel zu lang anhaͤlt; wenn diese Hofnung zu oft taͤuscht; wenn jede Aussicht sich nur zeigt und dann — schnell wie Morgennebel verschwindet. Dadurch wird das Vertrauen zu Gott geschwaͤcht — und mich duͤnkt, wir verlangen zu viel von einem Menschen, wenn wir diese angenommene vornehmste Eigenschaft des Gebets von ihm verlangen, der in seinem ganzen Leben wenig auffallende Beweise einer besondern goͤttlichen Fuͤrsorge, einer solchen Staͤrkung seines Glaubens, aufzuweisen hat, die auch bei einem Abraham erst vorgehen mußten, ehe Gott das grosse Opfer — von ihm fordern konnte.</p> <p>Jch bemerk' es jetzt deutlich, daß Jahre lang anhaltende Leiden die menschliche Seele muthlos machen. </p> <p>Dieses Vertrauen wird noch durch andere Zweifel geschwaͤcht. Mir scheint es ganz unnoͤthig, und selbst der Ehre Gottes zuwider, daß ich ihn um etwas bitten soll. Weiß er, als der Allwissende, denn nicht, was mir mangelt? Oder ist er (verzeih Allbarmherziger, wenn ich irre!) zu hart, oder so ehrbegierig, daß ich ihn erst durch vieles Bitten erweichen und bewegen muß, mir seine Wohlthaten zufließen zu lassen? Und verdunkelt das nicht seine goͤttlichen Eigenschaften? Jst<lb/></p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [35/0037]
Vertrauen auf die goͤttliche Huͤlfe ist im Grunde nichts anders, als: Hofnung der baldigen Aendrung seines Schicksaals. Diese verschwindet bald, wenn das Uebel zu lang anhaͤlt; wenn diese Hofnung zu oft taͤuscht; wenn jede Aussicht sich nur zeigt und dann — schnell wie Morgennebel verschwindet. Dadurch wird das Vertrauen zu Gott geschwaͤcht — und mich duͤnkt, wir verlangen zu viel von einem Menschen, wenn wir diese angenommene vornehmste Eigenschaft des Gebets von ihm verlangen, der in seinem ganzen Leben wenig auffallende Beweise einer besondern goͤttlichen Fuͤrsorge, einer solchen Staͤrkung seines Glaubens, aufzuweisen hat, die auch bei einem Abraham erst vorgehen mußten, ehe Gott das grosse Opfer — von ihm fordern konnte.
Jch bemerk' es jetzt deutlich, daß Jahre lang anhaltende Leiden die menschliche Seele muthlos machen.
Dieses Vertrauen wird noch durch andere Zweifel geschwaͤcht. Mir scheint es ganz unnoͤthig, und selbst der Ehre Gottes zuwider, daß ich ihn um etwas bitten soll. Weiß er, als der Allwissende, denn nicht, was mir mangelt? Oder ist er (verzeih Allbarmherziger, wenn ich irre!) zu hart, oder so ehrbegierig, daß ich ihn erst durch vieles Bitten erweichen und bewegen muß, mir seine Wohlthaten zufließen zu lassen? Und verdunkelt das nicht seine goͤttlichen Eigenschaften? Jst
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