Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 2, St. 3. Berlin, 1784.
Jndessen muß ich zu meiner Rechtfertigung sagen, daß ich nie den Vorsatz gefaßt hatte, es ihr wirklich anzutragen. Denn davon hielt mich eines Theils eine gewisse Ehrerbietung für diejenigen Wahrheiten, die ich ihr gelehrt hatte, theils auch eine innre Schaam ab. (Denn ich habe das immer für sehr schimpflich gehalten, sich den Leuten auf zwei Seiten zu zeigen.) Und das mußte ich doch thun, wenn ichs ihr antrug. Dazu konnte ich mich aber, aller meiner stürmischen Begierden ungeachtet, keinesweges entschließen, und gewiß wäre es nie geschehen, hätte der Zufall nicht die Umstände so verkettet, daß es hier erst keiner langen Erklärung bedurfte. -- Aus diesem werden Sie nun glauben, wenn ich Jhnen sage, wie schrecklich mir der Morgen war, wo sich Aug' und Auge sehen sollte. Beschämt hob sie ihr blaues Aug' empor, und weinte. Jch war in einer unbeschreiblichen Verwirrung. Auf einmal entstand in meiner Seele eine so außerordentliche Gleichgültigkeit gegen die Unglückliche, daß ich wie bezaubert da stand und nicht wußte, was ich von mir denken sollte. Kalt und traurig schlich ich mich fort, und -- sahe sie nie wieder. Jch konnte es nicht über mich vermögen, ihr wieder unter die Augen zu treten. War es Schaam,
Jndessen muß ich zu meiner Rechtfertigung sagen, daß ich nie den Vorsatz gefaßt hatte, es ihr wirklich anzutragen. Denn davon hielt mich eines Theils eine gewisse Ehrerbietung fuͤr diejenigen Wahrheiten, die ich ihr gelehrt hatte, theils auch eine innre Schaam ab. (Denn ich habe das immer fuͤr sehr schimpflich gehalten, sich den Leuten auf zwei Seiten zu zeigen.) Und das mußte ich doch thun, wenn ichs ihr antrug. Dazu konnte ich mich aber, aller meiner stuͤrmischen Begierden ungeachtet, keinesweges entschließen, und gewiß waͤre es nie geschehen, haͤtte der Zufall nicht die Umstaͤnde so verkettet, daß es hier erst keiner langen Erklaͤrung bedurfte. ― Aus diesem werden Sie nun glauben, wenn ich Jhnen sage, wie schrecklich mir der Morgen war, wo sich Aug' und Auge sehen sollte. Beschaͤmt hob sie ihr blaues Aug' empor, und weinte. Jch war in einer unbeschreiblichen Verwirrung. Auf einmal entstand in meiner Seele eine so außerordentliche Gleichguͤltigkeit gegen die Ungluͤckliche, daß ich wie bezaubert da stand und nicht wußte, was ich von mir denken sollte. Kalt und traurig schlich ich mich fort, und ― sahe sie nie wieder. Jch konnte es nicht uͤber mich vermoͤgen, ihr wieder unter die Augen zu treten. War es Schaam, <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0071" n="71"/><lb/> ten, waren erschoͤpft). ― Erlauben Sie mir hier abzubrechen. </p> <p>Jndessen muß ich zu meiner Rechtfertigung sagen, daß ich nie den Vorsatz gefaßt hatte, es ihr wirklich anzutragen. Denn davon hielt mich eines Theils eine gewisse Ehrerbietung fuͤr diejenigen Wahrheiten, die ich ihr gelehrt hatte, theils auch eine innre Schaam ab. (Denn ich habe das immer fuͤr sehr schimpflich gehalten, sich den Leuten auf zwei Seiten zu zeigen.) Und das mußte ich doch thun, wenn ichs ihr antrug. Dazu konnte ich mich aber, aller meiner stuͤrmischen Begierden ungeachtet, keinesweges entschließen, und gewiß waͤre es nie geschehen, haͤtte der Zufall nicht die Umstaͤnde so verkettet, daß es hier erst keiner langen Erklaͤrung bedurfte. ― </p> <p>Aus diesem werden Sie nun glauben, wenn ich Jhnen sage, wie schrecklich mir der Morgen war, wo sich Aug' und Auge sehen sollte. Beschaͤmt hob sie ihr blaues Aug' empor, und weinte. Jch war in einer unbeschreiblichen Verwirrung. Auf einmal entstand in meiner Seele eine so außerordentliche Gleichguͤltigkeit gegen die Ungluͤckliche, daß ich wie bezaubert da stand und nicht wußte, was ich von mir denken sollte. Kalt und traurig schlich ich mich fort, und ― sahe sie nie wieder. Jch konnte es nicht uͤber mich vermoͤgen, ihr wieder unter die Augen zu treten. War es Schaam,<lb/></p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [71/0071]
ten, waren erschoͤpft). ― Erlauben Sie mir hier abzubrechen.
Jndessen muß ich zu meiner Rechtfertigung sagen, daß ich nie den Vorsatz gefaßt hatte, es ihr wirklich anzutragen. Denn davon hielt mich eines Theils eine gewisse Ehrerbietung fuͤr diejenigen Wahrheiten, die ich ihr gelehrt hatte, theils auch eine innre Schaam ab. (Denn ich habe das immer fuͤr sehr schimpflich gehalten, sich den Leuten auf zwei Seiten zu zeigen.) Und das mußte ich doch thun, wenn ichs ihr antrug. Dazu konnte ich mich aber, aller meiner stuͤrmischen Begierden ungeachtet, keinesweges entschließen, und gewiß waͤre es nie geschehen, haͤtte der Zufall nicht die Umstaͤnde so verkettet, daß es hier erst keiner langen Erklaͤrung bedurfte. ―
Aus diesem werden Sie nun glauben, wenn ich Jhnen sage, wie schrecklich mir der Morgen war, wo sich Aug' und Auge sehen sollte. Beschaͤmt hob sie ihr blaues Aug' empor, und weinte. Jch war in einer unbeschreiblichen Verwirrung. Auf einmal entstand in meiner Seele eine so außerordentliche Gleichguͤltigkeit gegen die Ungluͤckliche, daß ich wie bezaubert da stand und nicht wußte, was ich von mir denken sollte. Kalt und traurig schlich ich mich fort, und ― sahe sie nie wieder. Jch konnte es nicht uͤber mich vermoͤgen, ihr wieder unter die Augen zu treten. War es Schaam,
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Zitationshilfe: | Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 2, St. 3. Berlin, 1784, S. 71. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_erfahrungsseelenkunde0203_1784/71>, abgerufen am 16.02.2025. |