schon anfing körperlich zu werden. Meinen Unterricht hatte ich schon aufheben müssen, denn die Kinder blieben alle zu Hause. Jch sahe mich daher genöthiget, alles zu verkaufen um den noch schuldigen Miethzins bezahlen zu können, und um Johanni zog ich wieder zu meinen Eltern. Vier volle Wochen ging ich wie tiefsinnig herum, denn meine Leiden waren jetzt doppelt. -- Und nur der Abend heiterte mich ein wenig auf, wenn ich meinen Kummer (ich hatte weiter keinen Freund) an ihrem freundschaftlichen Herzen ausweinen konnte. Ein Kuß, ein Händedruck war alles, was ich verlangte und sie verstattete. Aber bald fing (ohngeachtet aller meiner Sorgen) mein verwöhntes Herz an, ein gewisses Leere zu bemerken. Anstatt, daß meine Noth meine Triebe hinunter hätte stimmen sollen, stimmte sie sie vielmehr hinauf -- und vielleicht mochte eine gewisse Gleichgültigkeit gegen alles, der Gedanke: du hast nun nichts mehr zu fürchten, und mein gewöhnlicher Leichtsinn vieles dazu beitragen, mich nun auf alle nur mögliche Art zu vergnügen, da ich mein Loos ohnedem für das allerunglücklichste Menschenloos ansahe. Die sanften Berührungen ihrer Hände, ihres Mundes wurden nach und nach elektrische Funken, die mein ganzes Blut in Wallung setzten. Das Enthusiastische unsrer Liebe fing an abzunehmen; meine Reformirsucht fing an zu erkalten -- und nicht selten erschien sie mir jetzt schon in einem komischen Lichte. -- Vielleicht mochte
schon anfing koͤrperlich zu werden. Meinen Unterricht hatte ich schon aufheben muͤssen, denn die Kinder blieben alle zu Hause. Jch sahe mich daher genoͤthiget, alles zu verkaufen um den noch schuldigen Miethzins bezahlen zu koͤnnen, und um Johanni zog ich wieder zu meinen Eltern. Vier volle Wochen ging ich wie tiefsinnig herum, denn meine Leiden waren jetzt doppelt. ― Und nur der Abend heiterte mich ein wenig auf, wenn ich meinen Kummer (ich hatte weiter keinen Freund) an ihrem freundschaftlichen Herzen ausweinen konnte. Ein Kuß, ein Haͤndedruck war alles, was ich verlangte und sie verstattete. Aber bald fing (ohngeachtet aller meiner Sorgen) mein verwoͤhntes Herz an, ein gewisses Leere zu bemerken. Anstatt, daß meine Noth meine Triebe hinunter haͤtte stimmen sollen, stimmte sie sie vielmehr hinauf ― und vielleicht mochte eine gewisse Gleichguͤltigkeit gegen alles, der Gedanke: du hast nun nichts mehr zu fuͤrchten, und mein gewoͤhnlicher Leichtsinn vieles dazu beitragen, mich nun auf alle nur moͤgliche Art zu vergnuͤgen, da ich mein Loos ohnedem fuͤr das allerungluͤcklichste Menschenloos ansahe. Die sanften Beruͤhrungen ihrer Haͤnde, ihres Mundes wurden nach und nach elektrische Funken, die mein ganzes Blut in Wallung setzten. Das Enthusiastische unsrer Liebe fing an abzunehmen; meine Reformirsucht fing an zu erkalten ― und nicht selten erschien sie mir jetzt schon in einem komischen Lichte. ― Vielleicht mochte
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schon anfing koͤrperlich zu werden. Meinen Unterricht hatte ich schon aufheben muͤssen, denn die Kinder blieben alle zu Hause. Jch sahe mich daher genoͤthiget, alles zu verkaufen um den noch schuldigen Miethzins bezahlen zu koͤnnen, und um Johanni zog ich wieder zu meinen Eltern. Vier volle Wochen ging ich wie tiefsinnig herum, denn meine Leiden waren jetzt doppelt. ― Und nur der Abend heiterte mich ein wenig auf, wenn ich meinen Kummer (ich hatte weiter keinen Freund) an ihrem freundschaftlichen Herzen ausweinen konnte. Ein Kuß, ein Haͤndedruck war alles, was ich verlangte und sie verstattete. Aber bald fing (ohngeachtet aller meiner Sorgen) mein verwoͤhntes Herz an, ein gewisses Leere zu bemerken. Anstatt, daß meine Noth meine Triebe hinunter haͤtte stimmen sollen, stimmte sie sie vielmehr hinauf ― und vielleicht mochte eine gewisse Gleichguͤltigkeit gegen alles, der Gedanke: du hast nun nichts mehr zu fuͤrchten, und mein gewoͤhnlicher Leichtsinn vieles dazu beitragen, mich nun auf alle nur moͤgliche Art zu vergnuͤgen, da ich mein Loos ohnedem fuͤr das allerungluͤcklichste Menschenloos ansahe. Die sanften Beruͤhrungen ihrer Haͤnde, ihres Mundes wurden nach und nach elektrische Funken, die mein ganzes Blut in Wallung setzten. Das Enthusiastische unsrer Liebe fing an abzunehmen; meine Reformirsucht fing an zu erkalten ― und nicht selten erschien sie mir jetzt schon in einem komischen Lichte. ― Vielleicht mochte<lb/></p></div></div></div></body></text></TEI>
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schon anfing koͤrperlich zu werden. Meinen Unterricht hatte ich schon aufheben muͤssen, denn die Kinder blieben alle zu Hause. Jch sahe mich daher genoͤthiget, alles zu verkaufen um den noch schuldigen Miethzins bezahlen zu koͤnnen, und um Johanni zog ich wieder zu meinen Eltern. Vier volle Wochen ging ich wie tiefsinnig herum, denn meine Leiden waren jetzt doppelt. ― Und nur der Abend heiterte mich ein wenig auf, wenn ich meinen Kummer (ich hatte weiter keinen Freund) an ihrem freundschaftlichen Herzen ausweinen konnte. Ein Kuß, ein Haͤndedruck war alles, was ich verlangte und sie verstattete. Aber bald fing (ohngeachtet aller meiner Sorgen) mein verwoͤhntes Herz an, ein gewisses Leere zu bemerken. Anstatt, daß meine Noth meine Triebe hinunter haͤtte stimmen sollen, stimmte sie sie vielmehr hinauf ― und vielleicht mochte eine gewisse Gleichguͤltigkeit gegen alles, der Gedanke: du hast nun nichts mehr zu fuͤrchten, und mein gewoͤhnlicher Leichtsinn vieles dazu beitragen, mich nun auf alle nur moͤgliche Art zu vergnuͤgen, da ich mein Loos ohnedem fuͤr das allerungluͤcklichste Menschenloos ansahe. Die sanften Beruͤhrungen ihrer Haͤnde, ihres Mundes wurden nach und nach elektrische Funken, die mein ganzes Blut in Wallung setzten. Das Enthusiastische unsrer Liebe fing an abzunehmen; meine Reformirsucht fing an zu erkalten ― und nicht selten erschien sie mir jetzt schon in einem komischen Lichte. ― Vielleicht mochte
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(2015-06-09T11:00:00Z)
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Matthias Boenig, Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie zu Berlin: Konvertierung nach DTA-Basisformat
(2015-06-09T11:00:00Z)
UB Uni-Bielefeld: Bereitstellung der Bilddigitalisate
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Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 2, St. 3. Berlin, 1784, S. 69. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_erfahrungsseelenkunde0203_1784/69>, abgerufen am 05.07.2024.
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