Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 2, St. 2. Berlin, 1784.
Noch sprach er kein Wort. Darauf schickte er sich an, aufzustehen; wir verließen ihn, daß er sich ankleiden konnte. Und kaum waren wir aus der Kammer heraus, so schloß er die Thür ab. Nachdem er sich angekleidet hatte, öfnete er sie wieder, und kam heraus in die Stube, immer mit verschlossenen Augen. Und so öfnete er eine verschlossene Kommode, indem er durchs Gefühl das Schlüsselloch suchte, nahm daraus mein deutsches Kompendium der Logik und Metaphysik, und schlug bei der ersten Oefnung desselben den §. auf, der die Ueberschrift hat: Ob alle endliche Geister einen Körper haben müssen, wieß mit dem Finger darauf und hielt mir das Buch hin. Auch schlug er sein nachgeschriebenes Collegium über die Moral auf, und zeigte auf eine Stelle, wo es hieß: Von der Trägheit muß man Unfähigkeit der Kräfte unterscheiden. Bald darauf ging er vor sein Klavier, das auch verschlossen war, schloß es auf, nahm den darauf liegenden Marsch aus der Medea, fühlte herum, um zu entdecken, welches die rechte Seite und Richtung des Blatts, und nachdem er dieß durch Be-
Noch sprach er kein Wort. Darauf schickte er sich an, aufzustehen; wir verließen ihn, daß er sich ankleiden konnte. Und kaum waren wir aus der Kammer heraus, so schloß er die Thuͤr ab. Nachdem er sich angekleidet hatte, oͤfnete er sie wieder, und kam heraus in die Stube, immer mit verschlossenen Augen. Und so oͤfnete er eine verschlossene Kommode, indem er durchs Gefuͤhl das Schluͤsselloch suchte, nahm daraus mein deutsches Kompendium der Logik und Metaphysik, und schlug bei der ersten Oefnung desselben den §. auf, der die Ueberschrift hat: Ob alle endliche Geister einen Koͤrper haben muͤssen, wieß mit dem Finger darauf und hielt mir das Buch hin. Auch schlug er sein nachgeschriebenes Collegium uͤber die Moral auf, und zeigte auf eine Stelle, wo es hieß: Von der Traͤgheit muß man Unfaͤhigkeit der Kraͤfte unterscheiden. Bald darauf ging er vor sein Klavier, das auch verschlossen war, schloß es auf, nahm den darauf liegenden Marsch aus der Medea, fuͤhlte herum, um zu entdecken, welches die rechte Seite und Richtung des Blatts, und nachdem er dieß durch Be- <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0084" n="84"/><lb/> schlossen ― fuͤhlte er nach mir herum, ich gab ihm die Hand, er kuͤßte sie, welches er in der Folge noch oͤfter gethan hat, kratzte mich darauf sanft an der Stirn (eine bei dieser Krankheit gewoͤhnliche Liebkosung desselben) und gab durch unartikulirte Toͤne Freude zu verstehen.</p> <p>Noch sprach er kein Wort. Darauf schickte er sich an, aufzustehen; wir verließen ihn, daß er sich ankleiden konnte. Und kaum waren wir aus der Kammer heraus, so schloß er die Thuͤr ab.</p> <p>Nachdem er sich angekleidet hatte, oͤfnete er sie wieder, und kam heraus in die Stube, immer mit verschlossenen Augen. Und so oͤfnete er eine verschlossene Kommode, indem er durchs Gefuͤhl das Schluͤsselloch suchte, nahm daraus mein deutsches Kompendium der Logik und Metaphysik, und schlug bei der <hi rendition="#b">ersten Oefnung</hi> desselben den §. auf, der die Ueberschrift hat: <hi rendition="#b">Ob alle endliche Geister einen Koͤrper haben muͤssen,</hi> wieß mit dem Finger darauf und hielt mir das Buch hin. Auch schlug er sein nachgeschriebenes Collegium uͤber die Moral auf, und zeigte auf eine Stelle, wo es hieß: <hi rendition="#b">Von der Traͤgheit muß man Unfaͤhigkeit der Kraͤfte unterscheiden.</hi></p> <p>Bald darauf ging er vor sein Klavier, das auch verschlossen war, schloß es auf, nahm den darauf liegenden Marsch aus der Medea, fuͤhlte herum, um zu entdecken, welches die rechte Seite und Richtung des Blatts, und nachdem er dieß durch Be-<lb/></p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [84/0084]
schlossen ― fuͤhlte er nach mir herum, ich gab ihm die Hand, er kuͤßte sie, welches er in der Folge noch oͤfter gethan hat, kratzte mich darauf sanft an der Stirn (eine bei dieser Krankheit gewoͤhnliche Liebkosung desselben) und gab durch unartikulirte Toͤne Freude zu verstehen.
Noch sprach er kein Wort. Darauf schickte er sich an, aufzustehen; wir verließen ihn, daß er sich ankleiden konnte. Und kaum waren wir aus der Kammer heraus, so schloß er die Thuͤr ab.
Nachdem er sich angekleidet hatte, oͤfnete er sie wieder, und kam heraus in die Stube, immer mit verschlossenen Augen. Und so oͤfnete er eine verschlossene Kommode, indem er durchs Gefuͤhl das Schluͤsselloch suchte, nahm daraus mein deutsches Kompendium der Logik und Metaphysik, und schlug bei der ersten Oefnung desselben den §. auf, der die Ueberschrift hat: Ob alle endliche Geister einen Koͤrper haben muͤssen, wieß mit dem Finger darauf und hielt mir das Buch hin. Auch schlug er sein nachgeschriebenes Collegium uͤber die Moral auf, und zeigte auf eine Stelle, wo es hieß: Von der Traͤgheit muß man Unfaͤhigkeit der Kraͤfte unterscheiden.
Bald darauf ging er vor sein Klavier, das auch verschlossen war, schloß es auf, nahm den darauf liegenden Marsch aus der Medea, fuͤhlte herum, um zu entdecken, welches die rechte Seite und Richtung des Blatts, und nachdem er dieß durch Be-
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Zitationshilfe: | Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 2, St. 2. Berlin, 1784, S. 84. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_erfahrungsseelenkunde0202_1784/84>, abgerufen am 16.02.2025. |