Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 2, St. 2. Berlin, 1784.
Da nun der Taubstumme nur durch Bilder und Handlungen denken kann, so wird er darin sehr fertig: er erzählt dadurch ganze Geschichten und denkt auch dadurch wachend und träumend. Aber, eben weil er pantomimisch und nicht durch Schriftsprache denkt, so ists ganz natürlich, daß er die Schriftsprache vernachläßiget: er kann sich nicht denkend darin üben, wer soll sich auch immer schriftlich mit ihm unterhalten, und wie viel giebts Leute, die dies richtig können? Ehe er sich nun hinsetzt und schreibt, so drückt er sich viel lieber durch Gebehrden aus, diese sind ihm viel bequemer, aber daher vergißt er auch die Schriftsprache, ehe man sichs versieht, und behält von seinen Begriffen nichts, als nur die methodischen Zeichen übrig, die nur sein Lehrer, oder der sie auch bei ihm gelernt hat, wissen und sich darin mit ihm unterhalten kann. Jch habe zwar, ehe ich meine jetzige Lehrart erfand, unter meinen tauben Lehrlingen einige gefunden, die etwas mehr als andre von der Schriftsprache behielten, aber es waren gemeiniglich welche, die in ihrer Jugend, im 6, 8, 12ten Jahre, ihr Gehör verlohren hatten, und die die Schriftsprache noch innerlich, mit einer tönenden Empfindung, verbanden. Ein solcher ist Saboureux, von dem man so viel Aufhebens macht, und der in seinem achten Jahre taub geworden ist.
Da nun der Taubstumme nur durch Bilder und Handlungen denken kann, so wird er darin sehr fertig: er erzaͤhlt dadurch ganze Geschichten und denkt auch dadurch wachend und traͤumend. Aber, eben weil er pantomimisch und nicht durch Schriftsprache denkt, so ists ganz natuͤrlich, daß er die Schriftsprache vernachlaͤßiget: er kann sich nicht denkend darin uͤben, wer soll sich auch immer schriftlich mit ihm unterhalten, und wie viel giebts Leute, die dies richtig koͤnnen? Ehe er sich nun hinsetzt und schreibt, so druͤckt er sich viel lieber durch Gebehrden aus, diese sind ihm viel bequemer, aber daher vergißt er auch die Schriftsprache, ehe man sichs versieht, und behaͤlt von seinen Begriffen nichts, als nur die methodischen Zeichen uͤbrig, die nur sein Lehrer, oder der sie auch bei ihm gelernt hat, wissen und sich darin mit ihm unterhalten kann. Jch habe zwar, ehe ich meine jetzige Lehrart erfand, unter meinen tauben Lehrlingen einige gefunden, die etwas mehr als andre von der Schriftsprache behielten, aber es waren gemeiniglich welche, die in ihrer Jugend, im 6, 8, 12ten Jahre, ihr Gehoͤr verlohren hatten, und die die Schriftsprache noch innerlich, mit einer toͤnenden Empfindung, verbanden. Ein solcher ist Saboureux, von dem man so viel Aufhebens macht, und der in seinem achten Jahre taub geworden ist. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0070" n="70"/><lb/> und auf diese oder jene Art, von ihm, gefaßt worden sind.</p> <p>Da nun der Taubstumme nur durch Bilder und Handlungen denken kann, so wird er darin sehr fertig: er erzaͤhlt dadurch ganze Geschichten und denkt auch dadurch wachend und traͤumend. Aber, eben weil er pantomimisch und nicht durch Schriftsprache denkt, so ists ganz natuͤrlich, daß er die Schriftsprache vernachlaͤßiget: er kann sich nicht denkend darin uͤben, wer soll sich auch immer schriftlich mit ihm unterhalten, und wie viel giebts Leute, die dies richtig koͤnnen? Ehe er sich nun hinsetzt und schreibt, so druͤckt er sich viel lieber durch Gebehrden aus, diese sind ihm viel bequemer, aber daher vergißt er auch die Schriftsprache, ehe man sichs versieht, und behaͤlt von seinen Begriffen nichts, als nur die methodischen Zeichen uͤbrig, die nur sein Lehrer, oder der sie auch bei ihm gelernt hat, wissen und sich darin mit ihm unterhalten kann.</p> <p>Jch habe zwar, ehe ich meine jetzige Lehrart erfand, unter meinen tauben Lehrlingen einige gefunden, die etwas mehr als andre von der Schriftsprache behielten, aber es waren gemeiniglich welche, die in ihrer Jugend, im 6, 8, 12ten Jahre, ihr Gehoͤr verlohren hatten, und die die Schriftsprache noch innerlich, mit einer toͤnenden Empfindung, verbanden. Ein solcher ist Saboureux, von dem man so viel Aufhebens macht, und der in seinem achten Jahre taub geworden ist.</p><lb/> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [70/0070]
und auf diese oder jene Art, von ihm, gefaßt worden sind.
Da nun der Taubstumme nur durch Bilder und Handlungen denken kann, so wird er darin sehr fertig: er erzaͤhlt dadurch ganze Geschichten und denkt auch dadurch wachend und traͤumend. Aber, eben weil er pantomimisch und nicht durch Schriftsprache denkt, so ists ganz natuͤrlich, daß er die Schriftsprache vernachlaͤßiget: er kann sich nicht denkend darin uͤben, wer soll sich auch immer schriftlich mit ihm unterhalten, und wie viel giebts Leute, die dies richtig koͤnnen? Ehe er sich nun hinsetzt und schreibt, so druͤckt er sich viel lieber durch Gebehrden aus, diese sind ihm viel bequemer, aber daher vergißt er auch die Schriftsprache, ehe man sichs versieht, und behaͤlt von seinen Begriffen nichts, als nur die methodischen Zeichen uͤbrig, die nur sein Lehrer, oder der sie auch bei ihm gelernt hat, wissen und sich darin mit ihm unterhalten kann.
Jch habe zwar, ehe ich meine jetzige Lehrart erfand, unter meinen tauben Lehrlingen einige gefunden, die etwas mehr als andre von der Schriftsprache behielten, aber es waren gemeiniglich welche, die in ihrer Jugend, im 6, 8, 12ten Jahre, ihr Gehoͤr verlohren hatten, und die die Schriftsprache noch innerlich, mit einer toͤnenden Empfindung, verbanden. Ein solcher ist Saboureux, von dem man so viel Aufhebens macht, und der in seinem achten Jahre taub geworden ist.
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Zitationshilfe: | Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 2, St. 2. Berlin, 1784, S. 70. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_erfahrungsseelenkunde0202_1784/70>, abgerufen am 16.02.2025. |