Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 2, St. 2. Berlin, 1784.Daher kommt es, daß die Lügen am leichtesten durch den Mangel des Zusammenhangs sowohl der einzelnen Jdeen untereinander, als auch des vorhergehenden und nachfolgenden Wörtlichen entdecket werden können. Eine so große Seele hat Jnquisit nicht, daß er unentdeckt lügen könne. Ein Vorrecht verschlagener und witziger Köpfe, welche die Welt aus Erfahrung und durch Gelehrsamkeit kennen gelernet, und doch werden sie in ihrem Nebel erhaschet. Wenn die Bildersprache nicht deutlich und vollständig wäre, was bedeuten denn die Warnungstafeln, welche auf obrigkeitlichen Befehl an Orten aufgehangen werden, welche nicht ungestraft beschädiget werden sollen? Folglich kann man, meiner Meinung nach, das Gemälde des Brünings, im Ganzen betrachtet, als ein vollständiges Bekenntniß seiner Mordthat ansehen. Denn ich kann nicht wissen, ob ein Bekenntniß durch Worte nothwendig erforderlich sey. Es folget die zweite Frage: Ob seine Art und Weise, sich zu erklären, mit derjenigen übereinkomme, die man bei andern Taub- und Stummgebohrnen wahrzunehmen pfleget? Jn meiner Jugend habe ich Gelegenheit gehabt, einige Jahre eine taub- und stummgebohrne Tagelöhnerin in dem Hause meiner Eltern zu sehen und mit ihr umzugehen; man machte sich endlich ihre Gebehrden bekannt, mit welchen sie Männer Daher kommt es, daß die Luͤgen am leichtesten durch den Mangel des Zusammenhangs sowohl der einzelnen Jdeen untereinander, als auch des vorhergehenden und nachfolgenden Woͤrtlichen entdecket werden koͤnnen. Eine so große Seele hat Jnquisit nicht, daß er unentdeckt luͤgen koͤnne. Ein Vorrecht verschlagener und witziger Koͤpfe, welche die Welt aus Erfahrung und durch Gelehrsamkeit kennen gelernet, und doch werden sie in ihrem Nebel erhaschet. Wenn die Bildersprache nicht deutlich und vollstaͤndig waͤre, was bedeuten denn die Warnungstafeln, welche auf obrigkeitlichen Befehl an Orten aufgehangen werden, welche nicht ungestraft beschaͤdiget werden sollen? Folglich kann man, meiner Meinung nach, das Gemaͤlde des Bruͤnings, im Ganzen betrachtet, als ein vollstaͤndiges Bekenntniß seiner Mordthat ansehen. Denn ich kann nicht wissen, ob ein Bekenntniß durch Worte nothwendig erforderlich sey. Es folget die zweite Frage: Ob seine Art und Weise, sich zu erklaͤren, mit derjenigen uͤbereinkomme, die man bei andern Taub- und Stummgebohrnen wahrzunehmen pfleget? Jn meiner Jugend habe ich Gelegenheit gehabt, einige Jahre eine taub- und stummgebohrne Tageloͤhnerin in dem Hause meiner Eltern zu sehen und mit ihr umzugehen; man machte sich endlich ihre Gebehrden bekannt, mit welchen sie Maͤnner <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <pb facs="#f0057" n="57"/><lb/> <p>Daher kommt es, daß die Luͤgen am leichtesten durch den Mangel des Zusammenhangs sowohl der einzelnen Jdeen untereinander, als auch des vorhergehenden und nachfolgenden Woͤrtlichen entdecket werden koͤnnen.</p> <p>Eine so große Seele hat Jnquisit nicht, daß er unentdeckt luͤgen koͤnne. Ein Vorrecht verschlagener und witziger Koͤpfe, welche die Welt aus Erfahrung und durch Gelehrsamkeit kennen gelernet, und doch werden sie in ihrem Nebel erhaschet.</p> <p>Wenn die Bildersprache nicht deutlich und vollstaͤndig waͤre, was bedeuten denn die Warnungstafeln, welche auf obrigkeitlichen Befehl an Orten aufgehangen werden, welche nicht ungestraft beschaͤdiget werden sollen?</p> <p>Folglich kann man, meiner Meinung nach, das Gemaͤlde des Bruͤnings, im Ganzen betrachtet, als ein vollstaͤndiges Bekenntniß seiner Mordthat ansehen. Denn ich kann nicht wissen, ob ein Bekenntniß durch Worte nothwendig erforderlich sey.</p> <p>Es folget die zweite Frage: Ob seine Art und Weise, sich zu erklaͤren, mit derjenigen uͤbereinkomme, die man bei andern Taub- und Stummgebohrnen wahrzunehmen pfleget?</p> <p>Jn meiner Jugend habe ich Gelegenheit gehabt, einige Jahre eine taub- und stummgebohrne Tageloͤhnerin in dem Hause meiner Eltern zu sehen und mit ihr umzugehen; man machte sich endlich ihre Gebehrden bekannt, mit welchen sie Maͤnner<lb/></p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [57/0057]
Daher kommt es, daß die Luͤgen am leichtesten durch den Mangel des Zusammenhangs sowohl der einzelnen Jdeen untereinander, als auch des vorhergehenden und nachfolgenden Woͤrtlichen entdecket werden koͤnnen.
Eine so große Seele hat Jnquisit nicht, daß er unentdeckt luͤgen koͤnne. Ein Vorrecht verschlagener und witziger Koͤpfe, welche die Welt aus Erfahrung und durch Gelehrsamkeit kennen gelernet, und doch werden sie in ihrem Nebel erhaschet.
Wenn die Bildersprache nicht deutlich und vollstaͤndig waͤre, was bedeuten denn die Warnungstafeln, welche auf obrigkeitlichen Befehl an Orten aufgehangen werden, welche nicht ungestraft beschaͤdiget werden sollen?
Folglich kann man, meiner Meinung nach, das Gemaͤlde des Bruͤnings, im Ganzen betrachtet, als ein vollstaͤndiges Bekenntniß seiner Mordthat ansehen. Denn ich kann nicht wissen, ob ein Bekenntniß durch Worte nothwendig erforderlich sey.
Es folget die zweite Frage: Ob seine Art und Weise, sich zu erklaͤren, mit derjenigen uͤbereinkomme, die man bei andern Taub- und Stummgebohrnen wahrzunehmen pfleget?
Jn meiner Jugend habe ich Gelegenheit gehabt, einige Jahre eine taub- und stummgebohrne Tageloͤhnerin in dem Hause meiner Eltern zu sehen und mit ihr umzugehen; man machte sich endlich ihre Gebehrden bekannt, mit welchen sie Maͤnner
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Zitationshilfe: | Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 2, St. 2. Berlin, 1784, S. 57. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_erfahrungsseelenkunde0202_1784/57>, abgerufen am 16.02.2025. |