Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 2, St. 2. Berlin, 1784.Das gebe ich zu, daß keine Kugel diesen Schaden verursacht habe, sonst würde das Wundmahl größer gerathen seyn. Daß aber Jnquisit in der Kindheit habe hören können, bleibet gleichwol richtig, wenn er auch gelogen. Wie könnte er sonst etwas von der Dreieinigkeit und von den Ständen Christi wissen? Er buchstabirt auch, wenn er eine gedruckte Schrift vor sich liegen siehet, mit den Fingern, wie ein Kind. Es kann seyn, daß er eben damals, als er den Schuß empfangen, im Buchstabiren begriffen gewesen. Hieraus wird die Anwendung auf die Ausmahlung seiner Mordthat leicht gemachet werden können. Sind seine Mahlereyen undeutlich und zweideutig, so zeige man an, was sie sonst bedeuten können, und wie es möglich, daß sie mit den übrigen Nachrichten in einem so vollkommenen Zusammenhange stehen. Ort, Zeit, das Vorhergehende, das Nachfolgende, alles bestätiget sein Bekenntniß. Ueberdem ist zu bemerken, daß Lügen niemals im Zusammenhange mit der würklichen Welt stehen: eine Seele, die allemal totale Jdeen denkt, mit ihren Nebenumständen, ist nicht zum Lügen sonderlich fähig; sie verfällt gar bald wieder in das Wahre. Jch meine: es wird die Erschaffung einer totalen Lügenidee ihr schwerer, als einem andern Menschen, der unterbrochen durch Worte denkt. Das gebe ich zu, daß keine Kugel diesen Schaden verursacht habe, sonst wuͤrde das Wundmahl groͤßer gerathen seyn. Daß aber Jnquisit in der Kindheit habe hoͤren koͤnnen, bleibet gleichwol richtig, wenn er auch gelogen. Wie koͤnnte er sonst etwas von der Dreieinigkeit und von den Staͤnden Christi wissen? Er buchstabirt auch, wenn er eine gedruckte Schrift vor sich liegen siehet, mit den Fingern, wie ein Kind. Es kann seyn, daß er eben damals, als er den Schuß empfangen, im Buchstabiren begriffen gewesen. Hieraus wird die Anwendung auf die Ausmahlung seiner Mordthat leicht gemachet werden koͤnnen. Sind seine Mahlereyen undeutlich und zweideutig, so zeige man an, was sie sonst bedeuten koͤnnen, und wie es moͤglich, daß sie mit den uͤbrigen Nachrichten in einem so vollkommenen Zusammenhange stehen. Ort, Zeit, das Vorhergehende, das Nachfolgende, alles bestaͤtiget sein Bekenntniß. Ueberdem ist zu bemerken, daß Luͤgen niemals im Zusammenhange mit der wuͤrklichen Welt stehen: eine Seele, die allemal totale Jdeen denkt, mit ihren Nebenumstaͤnden, ist nicht zum Luͤgen sonderlich faͤhig; sie verfaͤllt gar bald wieder in das Wahre. Jch meine: es wird die Erschaffung einer totalen Luͤgenidee ihr schwerer, als einem andern Menschen, der unterbrochen durch Worte denkt. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <pb facs="#f0056" n="56"/><lb/> <p>Das gebe ich zu, daß keine Kugel diesen Schaden verursacht habe, sonst wuͤrde das Wundmahl groͤßer gerathen seyn. Daß aber Jnquisit in der Kindheit habe hoͤren koͤnnen, bleibet gleichwol richtig, wenn er auch gelogen.</p> <p>Wie koͤnnte er sonst etwas von der Dreieinigkeit und von den Staͤnden Christi wissen? Er buchstabirt auch, wenn er eine gedruckte Schrift vor sich liegen siehet, mit den Fingern, wie ein Kind.</p> <p>Es kann seyn, daß er eben damals, als er den Schuß empfangen, im Buchstabiren begriffen gewesen.</p> <p>Hieraus wird die Anwendung auf die Ausmahlung seiner Mordthat leicht gemachet werden koͤnnen.</p> <p>Sind seine Mahlereyen undeutlich und zweideutig, so zeige man an, was sie sonst bedeuten koͤnnen, und wie es moͤglich, daß sie mit den uͤbrigen Nachrichten in einem so vollkommenen Zusammenhange stehen.</p> <p>Ort, Zeit, das Vorhergehende, das Nachfolgende, alles bestaͤtiget sein Bekenntniß.</p> <p>Ueberdem ist zu bemerken, daß Luͤgen niemals im Zusammenhange mit der wuͤrklichen Welt stehen: eine Seele, die allemal totale Jdeen denkt, mit ihren Nebenumstaͤnden, ist nicht zum Luͤgen sonderlich faͤhig; sie verfaͤllt gar bald wieder in das Wahre.</p> <p>Jch meine: es wird die Erschaffung einer totalen Luͤgenidee ihr schwerer, als einem andern Menschen, der unterbrochen durch Worte denkt.</p><lb/> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [56/0056]
Das gebe ich zu, daß keine Kugel diesen Schaden verursacht habe, sonst wuͤrde das Wundmahl groͤßer gerathen seyn. Daß aber Jnquisit in der Kindheit habe hoͤren koͤnnen, bleibet gleichwol richtig, wenn er auch gelogen.
Wie koͤnnte er sonst etwas von der Dreieinigkeit und von den Staͤnden Christi wissen? Er buchstabirt auch, wenn er eine gedruckte Schrift vor sich liegen siehet, mit den Fingern, wie ein Kind.
Es kann seyn, daß er eben damals, als er den Schuß empfangen, im Buchstabiren begriffen gewesen.
Hieraus wird die Anwendung auf die Ausmahlung seiner Mordthat leicht gemachet werden koͤnnen.
Sind seine Mahlereyen undeutlich und zweideutig, so zeige man an, was sie sonst bedeuten koͤnnen, und wie es moͤglich, daß sie mit den uͤbrigen Nachrichten in einem so vollkommenen Zusammenhange stehen.
Ort, Zeit, das Vorhergehende, das Nachfolgende, alles bestaͤtiget sein Bekenntniß.
Ueberdem ist zu bemerken, daß Luͤgen niemals im Zusammenhange mit der wuͤrklichen Welt stehen: eine Seele, die allemal totale Jdeen denkt, mit ihren Nebenumstaͤnden, ist nicht zum Luͤgen sonderlich faͤhig; sie verfaͤllt gar bald wieder in das Wahre.
Jch meine: es wird die Erschaffung einer totalen Luͤgenidee ihr schwerer, als einem andern Menschen, der unterbrochen durch Worte denkt.
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools
|
URL zu diesem Werk: | https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_erfahrungsseelenkunde0202_1784 |
URL zu dieser Seite: | https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_erfahrungsseelenkunde0202_1784/56 |
Zitationshilfe: | Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 2, St. 2. Berlin, 1784, S. 56. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_erfahrungsseelenkunde0202_1784/56>, abgerufen am 26.07.2024. |