Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 2, St. 2. Berlin, 1784.IV. Einwirkung sinnlicher Gegenstände auf die Gedanken. ![]() Am Neujahrstage predigte ich zu Steinort. Schon während dem Gesange bemerkte ich, so oft ich auf die Zuhörer sah, eine, mir ganz ungewöhnliche, Verwirrung, auf die ich aber wenig achtete. Kaum hatte ich den Vortrag angefangen, als mir plötzlich jeder Gedanke fehlete, und kaum konnte ich mich so viel fassen, ein Tuch aus der Tasche zu nehmen, zu räuspern und mich wieder zu sammeln. Anfänglich hielt ich es für einen Schwindelanfall, und war, bei der Zurückkehr des ersten Bewußtseyns, schon im Begriff, mich zu setzen, als ich mich zum Fortfahren stark genug fühlte. Dieß begegnete mir einigemal, ehe ich den Endschluß faßte, wider alle meine sonstige Gewohnheit, stets vor mich niederzusehn. Von dieser Zeit an begegnete mir der Vorfall nicht wieder, ohngeachtet ich noch über eine Viertelstunde sprach. Während dem Gesange nach der Predigt, suchte ich die Ursach dieser sonderbaren Begegniß und fand sie (mit dem einzigen Unterschiede, daß die Wirkung bei jedem der neuen Versuche schwächer wurde. Ein Fingerzeig, was Gewohnheit über Erdensöhne vermag, selbst wider unsern Willen; denn, aller IV. Einwirkung sinnlicher Gegenstaͤnde auf die Gedanken. ![]() Am Neujahrstage predigte ich zu Steinort. Schon waͤhrend dem Gesange bemerkte ich, so oft ich auf die Zuhoͤrer sah, eine, mir ganz ungewoͤhnliche, Verwirrung, auf die ich aber wenig achtete. Kaum hatte ich den Vortrag angefangen, als mir ploͤtzlich jeder Gedanke fehlete, und kaum konnte ich mich so viel fassen, ein Tuch aus der Tasche zu nehmen, zu raͤuspern und mich wieder zu sammeln. Anfaͤnglich hielt ich es fuͤr einen Schwindelanfall, und war, bei der Zuruͤckkehr des ersten Bewußtseyns, schon im Begriff, mich zu setzen, als ich mich zum Fortfahren stark genug fuͤhlte. Dieß begegnete mir einigemal, ehe ich den Endschluß faßte, wider alle meine sonstige Gewohnheit, stets vor mich niederzusehn. Von dieser Zeit an begegnete mir der Vorfall nicht wieder, ohngeachtet ich noch uͤber eine Viertelstunde sprach. Waͤhrend dem Gesange nach der Predigt, suchte ich die Ursach dieser sonderbaren Begegniß und fand sie (mit dem einzigen Unterschiede, daß die Wirkung bei jedem der neuen Versuche schwaͤcher wurde. Ein Fingerzeig, was Gewohnheit uͤber Erdensoͤhne vermag, selbst wider unsern Willen; denn, aller <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <pb facs="#f0038" n="38"/><lb/><lb/> </div> <div n="3"> <head><hi rendition="#aq">IV</hi>. Einwirkung sinnlicher Gegenstaͤnde auf die Gedanken.</head><lb/> <note type="editorial"> <bibl> <persName ref="#ref49"><note type="editorial"/>Boͤtticher, Jakob Gottlieb Isaak</persName> </bibl> </note> <p>Am Neujahrstage predigte ich zu Steinort. Schon waͤhrend dem Gesange bemerkte ich, so oft ich auf die Zuhoͤrer sah, eine, mir ganz ungewoͤhnliche, Verwirrung, auf die ich aber wenig achtete.</p> <p>Kaum hatte ich den Vortrag angefangen, als mir ploͤtzlich jeder Gedanke fehlete, und kaum konnte ich mich so viel fassen, ein Tuch aus der Tasche zu nehmen, zu raͤuspern und mich wieder zu sammeln.</p> <p>Anfaͤnglich hielt ich es fuͤr einen Schwindelanfall, und war, bei der Zuruͤckkehr des ersten Bewußtseyns, schon im Begriff, mich zu setzen, als ich mich zum Fortfahren stark genug fuͤhlte.</p> <p>Dieß begegnete mir einigemal, ehe ich den Endschluß faßte, wider alle meine sonstige Gewohnheit, stets vor mich niederzusehn.</p> <p>Von dieser Zeit an begegnete mir der Vorfall nicht wieder, ohngeachtet ich noch uͤber eine Viertelstunde sprach.</p> <p>Waͤhrend dem Gesange nach der Predigt, suchte ich die Ursach dieser sonderbaren Begegniß und fand sie (mit dem einzigen Unterschiede, daß die Wirkung bei jedem der neuen Versuche schwaͤcher wurde. Ein Fingerzeig, was Gewohnheit uͤber Erdensoͤhne vermag, selbst wider unsern Willen; denn, aller<lb/></p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [38/0038]
IV. Einwirkung sinnlicher Gegenstaͤnde auf die Gedanken.
Am Neujahrstage predigte ich zu Steinort. Schon waͤhrend dem Gesange bemerkte ich, so oft ich auf die Zuhoͤrer sah, eine, mir ganz ungewoͤhnliche, Verwirrung, auf die ich aber wenig achtete.
Kaum hatte ich den Vortrag angefangen, als mir ploͤtzlich jeder Gedanke fehlete, und kaum konnte ich mich so viel fassen, ein Tuch aus der Tasche zu nehmen, zu raͤuspern und mich wieder zu sammeln.
Anfaͤnglich hielt ich es fuͤr einen Schwindelanfall, und war, bei der Zuruͤckkehr des ersten Bewußtseyns, schon im Begriff, mich zu setzen, als ich mich zum Fortfahren stark genug fuͤhlte.
Dieß begegnete mir einigemal, ehe ich den Endschluß faßte, wider alle meine sonstige Gewohnheit, stets vor mich niederzusehn.
Von dieser Zeit an begegnete mir der Vorfall nicht wieder, ohngeachtet ich noch uͤber eine Viertelstunde sprach.
Waͤhrend dem Gesange nach der Predigt, suchte ich die Ursach dieser sonderbaren Begegniß und fand sie (mit dem einzigen Unterschiede, daß die Wirkung bei jedem der neuen Versuche schwaͤcher wurde. Ein Fingerzeig, was Gewohnheit uͤber Erdensoͤhne vermag, selbst wider unsern Willen; denn, aller
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Zitationshilfe: | Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 2, St. 2. Berlin, 1784, S. 38. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_erfahrungsseelenkunde0202_1784/38>, abgerufen am 05.07.2024. |