Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 2, St. 2. Berlin, 1784.So viel sehen wir wohl ein, daß ein gewisser Wirrwarr unsrer ersten Begriffe, die Ursach von der Vergessenheit ihrer Ureindrücke seyn muß, ob ich gleich nicht leugnen will, daß jene Vergessenheit auch mit durch die erste Schwäche unsres Körpers und des Nervengebäudes, eben sowohl als durch die damals geringere Aufmerksamkeit unserer Seele befördert werden konnte. Doch kommt es mir immer wahrscheinlicher vor, daß die erste zu große Herbeifuhre neuer Begriffe, die durch fünf Kanäle und auf einmal mitgetheilt wurden, die Kräfte unsres Gedächtnisses gleichsam überladen hat. Es ging dem Kinde grade so, wie uns Erwachsenern, wenn wir in ein großes Naturalienkabinet geführt werden. Wir erblicken da tausend neue Gegenstände; aber ihr Ueberfluß ist zu groß, als das wir sie alle im Gedächtniß behalten könnten. Welches Kabinet kann wohl größer seyn, als das, in welches das Kind bei seiner Geburt geführt wird! wohin es nur seine schwachen Sinne richtet, wird es durch eine Menge neuer Objekte mehr betäubt als unterrichtet und eben dadurch der ersten Erfahrungsgeschichte seines Lebens auf immer beraubt. Doch hat die Natur, die bei den grösten scheinbaren Unordnungen, nie ihre ewigen Gesetze der Ordnung und Harmonie aus den Au- So viel sehen wir wohl ein, daß ein gewisser Wirrwarr unsrer ersten Begriffe, die Ursach von der Vergessenheit ihrer Ureindruͤcke seyn muß, ob ich gleich nicht leugnen will, daß jene Vergessenheit auch mit durch die erste Schwaͤche unsres Koͤrpers und des Nervengebaͤudes, eben sowohl als durch die damals geringere Aufmerksamkeit unserer Seele befoͤrdert werden konnte. Doch kommt es mir immer wahrscheinlicher vor, daß die erste zu große Herbeifuhre neuer Begriffe, die durch fuͤnf Kanaͤle und auf einmal mitgetheilt wurden, die Kraͤfte unsres Gedaͤchtnisses gleichsam uͤberladen hat. Es ging dem Kinde grade so, wie uns Erwachsenern, wenn wir in ein großes Naturalienkabinet gefuͤhrt werden. Wir erblicken da tausend neue Gegenstaͤnde; aber ihr Ueberfluß ist zu groß, als das wir sie alle im Gedaͤchtniß behalten koͤnnten. Welches Kabinet kann wohl groͤßer seyn, als das, in welches das Kind bei seiner Geburt gefuͤhrt wird! wohin es nur seine schwachen Sinne richtet, wird es durch eine Menge neuer Objekte mehr betaͤubt als unterrichtet und eben dadurch der ersten Erfahrungsgeschichte seines Lebens auf immer beraubt. Doch hat die Natur, die bei den groͤsten scheinbaren Unordnungen, nie ihre ewigen Gesetze der Ordnung und Harmonie aus den Au- <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <pb facs="#f0020" n="20"/><lb/> <p>So viel sehen <hi rendition="#b">wir</hi> wohl ein, daß ein gewisser <hi rendition="#b">Wirrwarr</hi> unsrer ersten Begriffe, die Ursach von <hi rendition="#b">der Vergessenheit ihrer Ureindruͤcke</hi> seyn muß, ob ich gleich nicht leugnen will, daß jene Vergessenheit auch mit durch die erste Schwaͤche unsres Koͤrpers und des Nervengebaͤudes, eben sowohl als durch die damals geringere Aufmerksamkeit unserer Seele befoͤrdert werden konnte.</p> <p>Doch kommt es mir immer wahrscheinlicher vor, daß die erste zu <hi rendition="#b">große Herbeifuhre</hi> neuer Begriffe, die durch fuͤnf Kanaͤle und auf einmal mitgetheilt wurden, die Kraͤfte unsres Gedaͤchtnisses gleichsam <hi rendition="#b">uͤberladen</hi> hat.</p> <p>Es ging dem Kinde grade so, wie uns Erwachsenern, wenn wir in ein großes Naturalienkabinet gefuͤhrt werden.</p> <p>Wir erblicken da tausend neue Gegenstaͤnde; aber ihr Ueberfluß ist zu groß, als das wir sie alle im Gedaͤchtniß behalten koͤnnten.</p> <p>Welches Kabinet kann wohl groͤßer seyn, als das, in welches das Kind bei seiner Geburt gefuͤhrt wird! wohin es nur seine schwachen Sinne richtet, wird es durch eine Menge neuer Objekte mehr betaͤubt als unterrichtet und eben dadurch der ersten Erfahrungsgeschichte seines Lebens auf immer beraubt. Doch hat die Natur, die bei den groͤsten scheinbaren Unordnungen, nie ihre ewigen Gesetze der Ordnung und Harmonie aus den Au-<lb/></p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [20/0020]
So viel sehen wir wohl ein, daß ein gewisser Wirrwarr unsrer ersten Begriffe, die Ursach von der Vergessenheit ihrer Ureindruͤcke seyn muß, ob ich gleich nicht leugnen will, daß jene Vergessenheit auch mit durch die erste Schwaͤche unsres Koͤrpers und des Nervengebaͤudes, eben sowohl als durch die damals geringere Aufmerksamkeit unserer Seele befoͤrdert werden konnte.
Doch kommt es mir immer wahrscheinlicher vor, daß die erste zu große Herbeifuhre neuer Begriffe, die durch fuͤnf Kanaͤle und auf einmal mitgetheilt wurden, die Kraͤfte unsres Gedaͤchtnisses gleichsam uͤberladen hat.
Es ging dem Kinde grade so, wie uns Erwachsenern, wenn wir in ein großes Naturalienkabinet gefuͤhrt werden.
Wir erblicken da tausend neue Gegenstaͤnde; aber ihr Ueberfluß ist zu groß, als das wir sie alle im Gedaͤchtniß behalten koͤnnten.
Welches Kabinet kann wohl groͤßer seyn, als das, in welches das Kind bei seiner Geburt gefuͤhrt wird! wohin es nur seine schwachen Sinne richtet, wird es durch eine Menge neuer Objekte mehr betaͤubt als unterrichtet und eben dadurch der ersten Erfahrungsgeschichte seines Lebens auf immer beraubt. Doch hat die Natur, die bei den groͤsten scheinbaren Unordnungen, nie ihre ewigen Gesetze der Ordnung und Harmonie aus den Au-
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