Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 2, St. 2. Berlin, 1784.
Wir würden es uns alsdenn leichter erklären, wie sich der Mensch, der anfangs in Absicht seiner Fähigkeiten würklich unter dem Thier zu stehen scheint, so schnell über das Thier in kurzer Zeit erhebt; wie er die Kunst, seine Begriffe durch Zeichen aneinander zu reihen so schnell erlernte, da doch diese Kunst schon ein würkliches Nachdenken über den rechten Gebrauch der Zeichen voraussetzt; wie er zu den ersten Abstraktionen aus dem bloßen Vorrathe sinnlicher Begriffe überging, und bald einen Geschmack an Gegenständen des Geistes gewann. So leicht es sich auch immer sagen läßt, daß wir alle menschliche Erkenntniß durch die Sinne bekommen, und daß die ersten Abstraktionen sich auf den Gebrauch der Sinne beim Kinde eben sowohl, als bei dem tiefsinnigsten Philosophen, beziehen, so wenig können wir doch das Wie ihres Entstehens bestimmen, eben weil wir uns der ersten Geschichte unsrer Jdeenassociation nicht mehr erinnern können, weil wir nicht mehr wissen, welchen Grundverhältnissen unsrer Begriffe wir am meisten folgten, und welches dunkle Gefühl von Selbstinteresse die Thätigkeit unsrer Seele am leichtesten in Bewegung setzte.
Wir wuͤrden es uns alsdenn leichter erklaͤren, wie sich der Mensch, der anfangs in Absicht seiner Faͤhigkeiten wuͤrklich unter dem Thier zu stehen scheint, so schnell uͤber das Thier in kurzer Zeit erhebt; wie er die Kunst, seine Begriffe durch Zeichen aneinander zu reihen so schnell erlernte, da doch diese Kunst schon ein wuͤrkliches Nachdenken uͤber den rechten Gebrauch der Zeichen voraussetzt; wie er zu den ersten Abstraktionen aus dem bloßen Vorrathe sinnlicher Begriffe uͤberging, und bald einen Geschmack an Gegenstaͤnden des Geistes gewann. So leicht es sich auch immer sagen laͤßt, daß wir alle menschliche Erkenntniß durch die Sinne bekommen, und daß die ersten Abstraktionen sich auf den Gebrauch der Sinne beim Kinde eben sowohl, als bei dem tiefsinnigsten Philosophen, beziehen, so wenig koͤnnen wir doch das Wie ihres Entstehens bestimmen, eben weil wir uns der ersten Geschichte unsrer Jdeenassociation nicht mehr erinnern koͤnnen, weil wir nicht mehr wissen, welchen Grundverhaͤltnissen unsrer Begriffe wir am meisten folgten, und welches dunkle Gefuͤhl von Selbstinteresse die Thaͤtigkeit unsrer Seele am leichtesten in Bewegung setzte. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0019" n="19"/><lb/> dann zu beobachten anfangen, wenn wir schon eine ziemliche <hi rendition="#b">Reise durchs</hi> menschliche Leben, und eine noch viel groͤßere schon mit unsern Jdeen gemacht haben.</p> <p>Wir wuͤrden es uns alsdenn leichter erklaͤren, <hi rendition="#b">wie</hi> sich der Mensch, der anfangs in Absicht seiner Faͤhigkeiten wuͤrklich unter dem Thier zu stehen scheint, so schnell uͤber das Thier in kurzer Zeit erhebt; <hi rendition="#b">wie</hi> er die Kunst, seine Begriffe durch Zeichen aneinander zu reihen so schnell erlernte, da doch diese Kunst <hi rendition="#b">schon ein</hi> wuͤrkliches Nachdenken uͤber den rechten Gebrauch der Zeichen voraussetzt; <hi rendition="#b">wie</hi> er zu den ersten Abstraktionen aus <hi rendition="#b">dem bloßen</hi> Vorrathe sinnlicher Begriffe uͤberging, und bald einen <hi rendition="#b">Geschmack an Gegenstaͤnden</hi> des Geistes gewann.</p> <p>So leicht es sich auch immer sagen laͤßt, daß wir alle menschliche Erkenntniß durch die Sinne bekommen, und daß die ersten Abstraktionen sich auf den Gebrauch der Sinne beim Kinde eben sowohl, als bei dem tiefsinnigsten Philosophen, beziehen, so wenig koͤnnen wir doch das <hi rendition="#b">Wie</hi> ihres Entstehens bestimmen, eben weil wir uns der ersten Geschichte <hi rendition="#b">unsrer Jdeenassociation</hi> nicht mehr erinnern koͤnnen, weil wir nicht mehr wissen, <hi rendition="#b">welchen</hi> Grundverhaͤltnissen unsrer Begriffe wir am meisten folgten, und welches dunkle Gefuͤhl von Selbstinteresse die Thaͤtigkeit unsrer Seele am leichtesten in Bewegung setzte.</p><lb/> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [19/0019]
dann zu beobachten anfangen, wenn wir schon eine ziemliche Reise durchs menschliche Leben, und eine noch viel groͤßere schon mit unsern Jdeen gemacht haben.
Wir wuͤrden es uns alsdenn leichter erklaͤren, wie sich der Mensch, der anfangs in Absicht seiner Faͤhigkeiten wuͤrklich unter dem Thier zu stehen scheint, so schnell uͤber das Thier in kurzer Zeit erhebt; wie er die Kunst, seine Begriffe durch Zeichen aneinander zu reihen so schnell erlernte, da doch diese Kunst schon ein wuͤrkliches Nachdenken uͤber den rechten Gebrauch der Zeichen voraussetzt; wie er zu den ersten Abstraktionen aus dem bloßen Vorrathe sinnlicher Begriffe uͤberging, und bald einen Geschmack an Gegenstaͤnden des Geistes gewann.
So leicht es sich auch immer sagen laͤßt, daß wir alle menschliche Erkenntniß durch die Sinne bekommen, und daß die ersten Abstraktionen sich auf den Gebrauch der Sinne beim Kinde eben sowohl, als bei dem tiefsinnigsten Philosophen, beziehen, so wenig koͤnnen wir doch das Wie ihres Entstehens bestimmen, eben weil wir uns der ersten Geschichte unsrer Jdeenassociation nicht mehr erinnern koͤnnen, weil wir nicht mehr wissen, welchen Grundverhaͤltnissen unsrer Begriffe wir am meisten folgten, und welches dunkle Gefuͤhl von Selbstinteresse die Thaͤtigkeit unsrer Seele am leichtesten in Bewegung setzte.
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Zitationshilfe: | Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 2, St. 2. Berlin, 1784, S. 19. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_erfahrungsseelenkunde0202_1784/19>, abgerufen am 05.07.2024. |