Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 2, St. 2. Berlin, 1784.Jndem man also von dem Baume sagt, er ist grün, so redet man von ihm, als von einer Person männlichen Geschlechts, und indem man von der Rose sagt, sie blühet, so redet man von ihr, als von einer Person weiblichen Geschlechts. So drückt der Mensch auch in dieser Absicht der leblosen Natur sein Gepräge auf. Alles leblose, was man sich als stark, groß, wirksam, oder auch wohl als schrecklich denkt, wird, wenn man ihm eine Persönlichkeit beilegt, mit dem männlichen Geschlechte verglichen; alles aber, was man sich als sanft, leidend oder angenehm denkt, vergleicht man in dem Falle, daß man ihm Persönlichkeit zuschreibt, mit dem weiblichen Geschlechte, daher kömmt es nun, daß wir z.B. sagen: [Beginn Spaltensatz]der Baum, der Wald, der Zorn, der Haß, [Spaltenumbruch]
die Blume, die Wiese, die Sanftmuth, die Liebe. Wo denn auch der härtere, männlichere Artikel der in das sanftere die hinüberschmilzt. So scheinet die Sprache auch alles leblose in der Welt zu paaren; indem sie zu etwas Größern oder Stärkern immer etwas Aehnliches aufzufinden weiß, das nur kleiner oder schwächer, aber schöner und angenehmer ist. Was man aber in der Natur nicht so wichtig oder nicht schicklich fand, ihm das menschliche Ge- Jndem man also von dem Baume sagt, er ist gruͤn, so redet man von ihm, als von einer Person maͤnnlichen Geschlechts, und indem man von der Rose sagt, sie bluͤhet, so redet man von ihr, als von einer Person weiblichen Geschlechts. So druͤckt der Mensch auch in dieser Absicht der leblosen Natur sein Gepraͤge auf. Alles leblose, was man sich als stark, groß, wirksam, oder auch wohl als schrecklich denkt, wird, wenn man ihm eine Persoͤnlichkeit beilegt, mit dem maͤnnlichen Geschlechte verglichen; alles aber, was man sich als sanft, leidend oder angenehm denkt, vergleicht man in dem Falle, daß man ihm Persoͤnlichkeit zuschreibt, mit dem weiblichen Geschlechte, daher koͤmmt es nun, daß wir z.B. sagen: [Beginn Spaltensatz]der Baum, der Wald, der Zorn, der Haß, [Spaltenumbruch]
die Blume, die Wiese, die Sanftmuth, die Liebe. Wo denn auch der haͤrtere, maͤnnlichere Artikel der in das sanftere die hinuͤberschmilzt. So scheinet die Sprache auch alles leblose in der Welt zu paaren; indem sie zu etwas Groͤßern oder Staͤrkern immer etwas Aehnliches aufzufinden weiß, das nur kleiner oder schwaͤcher, aber schoͤner und angenehmer ist. Was man aber in der Natur nicht so wichtig oder nicht schicklich fand, ihm das menschliche Ge- <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <pb facs="#f0117" n="117"/><lb/> <p>Jndem man also von dem Baume sagt, <hi rendition="#b">er ist gruͤn,</hi> so redet man von ihm, als von einer Person maͤnnlichen Geschlechts, und indem man von der Rose sagt, <hi rendition="#b">sie bluͤhet,</hi> so redet man von ihr, als von einer Person weiblichen Geschlechts.</p> <p>So druͤckt der Mensch auch in dieser Absicht der leblosen Natur sein Gepraͤge auf.</p> <p>Alles leblose, was man sich als <hi rendition="#b">stark, groß, wirksam,</hi> oder auch wohl als <hi rendition="#b">schrecklich</hi> denkt, wird, wenn man ihm eine Persoͤnlichkeit beilegt, mit dem maͤnnlichen Geschlechte verglichen; alles aber, was man sich als <hi rendition="#b">sanft, leidend</hi> oder <hi rendition="#b">angenehm</hi> denkt, vergleicht man in dem Falle, daß man ihm Persoͤnlichkeit zuschreibt, mit dem weiblichen Geschlechte, daher koͤmmt es nun, daß wir z.B. sagen:</p> <cb type="start"/> <list> <item>der Baum,</item> <item>der Wald,</item> <item>der Zorn,</item> <item>der Haß,</item> <cb/> <item>die Blume,</item> <item>die Wiese,</item> <item>die Sanftmuth,</item> <item>die Liebe.</item> </list> <cb type="end"/> <p>Wo denn auch der haͤrtere, maͤnnlichere Artikel <hi rendition="#b">der</hi> in das sanftere <hi rendition="#b">die</hi> hinuͤberschmilzt.</p> <p>So scheinet die Sprache auch alles leblose in der Welt zu paaren; indem sie zu etwas Groͤßern oder Staͤrkern immer etwas Aehnliches aufzufinden weiß, das nur kleiner oder schwaͤcher, aber schoͤner und angenehmer ist.</p> <p>Was man aber in der Natur nicht so wichtig oder nicht schicklich fand, ihm das menschliche Ge-<lb/></p> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [117/0117]
Jndem man also von dem Baume sagt, er ist gruͤn, so redet man von ihm, als von einer Person maͤnnlichen Geschlechts, und indem man von der Rose sagt, sie bluͤhet, so redet man von ihr, als von einer Person weiblichen Geschlechts.
So druͤckt der Mensch auch in dieser Absicht der leblosen Natur sein Gepraͤge auf.
Alles leblose, was man sich als stark, groß, wirksam, oder auch wohl als schrecklich denkt, wird, wenn man ihm eine Persoͤnlichkeit beilegt, mit dem maͤnnlichen Geschlechte verglichen; alles aber, was man sich als sanft, leidend oder angenehm denkt, vergleicht man in dem Falle, daß man ihm Persoͤnlichkeit zuschreibt, mit dem weiblichen Geschlechte, daher koͤmmt es nun, daß wir z.B. sagen:
der Baum,
der Wald,
der Zorn,
der Haß,
die Blume,
die Wiese,
die Sanftmuth,
die Liebe.
Wo denn auch der haͤrtere, maͤnnlichere Artikel der in das sanftere die hinuͤberschmilzt.
So scheinet die Sprache auch alles leblose in der Welt zu paaren; indem sie zu etwas Groͤßern oder Staͤrkern immer etwas Aehnliches aufzufinden weiß, das nur kleiner oder schwaͤcher, aber schoͤner und angenehmer ist.
Was man aber in der Natur nicht so wichtig oder nicht schicklich fand, ihm das menschliche Ge-
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Zitationshilfe: | Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 2, St. 2. Berlin, 1784, S. 117. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_erfahrungsseelenkunde0202_1784/117>, abgerufen am 16.02.2025. |