Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 2, St. 1. Berlin, 1784.
*) Dieß ist wohl sehr natürlich. Sobald wir andern unsre Empfindungen mittheilen, ist immer unser Wunsch, andre sollen uns Recht geben, und wir sind überzeugt, daß man uns Recht geben wird, sobald wir andern unsre eigne Empfindung so lebhaft mittheilen können, als wir sie empfinden. Ein Mensch aber, der von einer heftigen Leidenschaft getrieben wird, hat durch die Erfahrung gelernt, daß er andern das Gefühl, das die Leidenschaft in ihm wirkt, niemals so lebhaft mittheilen kann, als er es empfindet, und daß also auch das Urtheil jener nie zu seiner Zufriedenheit ausfällt. Er glaubt immer, man werde ihm Unrecht thun, weil man sich nicht in seine Lage zu versetzen wisse. Daher handelt der Mensch bei aufwallenden Leidenschaften gewöhnlich versteckt und heimlich, nicht als ob er glaubte, er handele unrecht, sondern bloß, weil er glaubt, er könne andern, die mit ihm in gleicher Lage stünden, die Rechtmäßigkeit so begreiflich machen.
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*) Dieß ist wohl sehr natuͤrlich. Sobald wir andern unsre Empfindungen mittheilen, ist immer unser Wunsch, andre sollen uns Recht geben, und wir sind uͤberzeugt, daß man uns Recht geben wird, sobald wir andern unsre eigne Empfindung so lebhaft mittheilen koͤnnen, als wir sie empfinden. Ein Mensch aber, der von einer heftigen Leidenschaft getrieben wird, hat durch die Erfahrung gelernt, daß er andern das Gefuͤhl, das die Leidenschaft in ihm wirkt, niemals so lebhaft mittheilen kann, als er es empfindet, und daß also auch das Urtheil jener nie zu seiner Zufriedenheit ausfaͤllt. Er glaubt immer, man werde ihm Unrecht thun, weil man sich nicht in seine Lage zu versetzen wisse. Daher handelt der Mensch bei aufwallenden Leidenschaften gewoͤhnlich versteckt und heimlich, nicht als ob er glaubte, er handele unrecht, sondern bloß, weil er glaubt, er koͤnne andern, die mit ihm in gleicher Lage stuͤnden, die Rechtmaͤßigkeit so begreiflich machen.
![]() <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0008" n="6"/><lb/> Huͤlfe ansprechen, es moͤchte ihm gehn, wie es wolle. So irrte er umher bis es finster wurde, und warf sich innerhalb der Mauer an einer Gartenwand nieder, ohne zu wissen, ob er diesen Abend zu Hause gehn oder hier liegen bleiben sollte. Jn solchen Stunden floh er jeden Menschen, selbst seine vertrautesten Freunde*)<note place="foot"><p>*) Dieß ist wohl sehr natuͤrlich. Sobald wir andern unsre Empfindungen mittheilen, ist immer unser Wunsch, andre sollen uns Recht geben, und wir sind uͤberzeugt, daß man uns Recht geben wird, sobald wir andern unsre eigne Empfindung so lebhaft mittheilen koͤnnen, als wir sie empfinden. Ein Mensch aber, der von einer heftigen Leidenschaft getrieben wird, hat durch die Erfahrung gelernt, daß er andern das Gefuͤhl, das die Leidenschaft in ihm wirkt, niemals so lebhaft mittheilen kann, als er es empfindet, und daß also auch das Urtheil jener nie zu seiner Zufriedenheit ausfaͤllt. Er glaubt immer, man werde ihm Unrecht thun, weil man sich nicht in seine Lage zu versetzen wisse. Daher handelt der Mensch bei aufwallenden Leidenschaften gewoͤhnlich versteckt und heimlich, nicht als ob er glaubte, er handele unrecht, sondern bloß, weil er glaubt, er koͤnne andern, die mit ihm in gleicher Lage stuͤnden, die Rechtmaͤßigkeit so begreiflich machen.</p><p rendition="#right"><hi rendition="#b"><persName ref="#ref0147"><note type="editorial">Jakob, Ludwig Heinrich</note>J.</persName></hi></p></note>; er fuͤrchtete daher, jemanden zu begegnen, mit dem er reden muͤßte, und ließ sich lieber hier allein von der Angst foltern. Ein Geraͤusch, das auf der andern Seite der Mauer entstand, unterbrach seine Unruhe; er blickte in die<lb/></p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [6/0008]
Huͤlfe ansprechen, es moͤchte ihm gehn, wie es wolle. So irrte er umher bis es finster wurde, und warf sich innerhalb der Mauer an einer Gartenwand nieder, ohne zu wissen, ob er diesen Abend zu Hause gehn oder hier liegen bleiben sollte. Jn solchen Stunden floh er jeden Menschen, selbst seine vertrautesten Freunde*) ; er fuͤrchtete daher, jemanden zu begegnen, mit dem er reden muͤßte, und ließ sich lieber hier allein von der Angst foltern. Ein Geraͤusch, das auf der andern Seite der Mauer entstand, unterbrach seine Unruhe; er blickte in die
*) Dieß ist wohl sehr natuͤrlich. Sobald wir andern unsre Empfindungen mittheilen, ist immer unser Wunsch, andre sollen uns Recht geben, und wir sind uͤberzeugt, daß man uns Recht geben wird, sobald wir andern unsre eigne Empfindung so lebhaft mittheilen koͤnnen, als wir sie empfinden. Ein Mensch aber, der von einer heftigen Leidenschaft getrieben wird, hat durch die Erfahrung gelernt, daß er andern das Gefuͤhl, das die Leidenschaft in ihm wirkt, niemals so lebhaft mittheilen kann, als er es empfindet, und daß also auch das Urtheil jener nie zu seiner Zufriedenheit ausfaͤllt. Er glaubt immer, man werde ihm Unrecht thun, weil man sich nicht in seine Lage zu versetzen wisse. Daher handelt der Mensch bei aufwallenden Leidenschaften gewoͤhnlich versteckt und heimlich, nicht als ob er glaubte, er handele unrecht, sondern bloß, weil er glaubt, er koͤnne andern, die mit ihm in gleicher Lage stuͤnden, die Rechtmaͤßigkeit so begreiflich machen.
J.
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Zitationshilfe: | Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 2, St. 1. Berlin, 1784, S. 6. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_erfahrungsseelenkunde0201_1784/8>, abgerufen am 16.02.2025. |