Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 2, St. 1. Berlin, 1784.
Allein wenn ich z.B. sage, ich sang, so denke ich mir die Handlung meines Singens, als vergangen, und doch als unvollendet; ich stelle mir vor, daß sie noch fortdauerte, indeß etwas anders anging, als, ich sang ein tröstend Lied, da verschwand mein Kummer, u.s.w. Es wird uns schwer, wenn wir uns irgend etwas als ganz vollendet, oder als ganz vergangen denken wollen, weil die Folge der Dinge in der Welt einen so festen Zusammenhang hat, wie die Glieder einer Kette, wo sich immer eins in das andre schließt, und wo man sich also nicht gut eins ohne das andre denken kann. So müssen sich unsre Vorstellungen von dem Entferntern auch an den Vorstellungen von dem Nähern und Gegenwärtigen festhalten, wenn die Kette unsrer Gedanken nicht zerreissen soll. Jn unsrer Seele verdrängt ein Bild nicht plötzlich das andere, sondern schiebt sich ihm allmälig vor, und fügt sich zugleich an dasselbe hinan. Weil es nun wegen des nähern Zusammenhanges der aufeinander folgenden Dinge am allernatürlichsten ist, sich das Vergangne nicht als vollendet, sondern in Ansehung desjenigen, was darauf folgt, noch als fortdaurend zu denken, so bezeichnet unsre Sprache die Vergangenheit auch bloß auf diese Art unmittelbar. Wollen wir uns aber dem ohngeachtet das Vergangne als ganz vollendet denken, so müssen wir Allein wenn ich z.B. sage, ich sang, so denke ich mir die Handlung meines Singens, als vergangen, und doch als unvollendet; ich stelle mir vor, daß sie noch fortdauerte, indeß etwas anders anging, als, ich sang ein troͤstend Lied, da verschwand mein Kummer, u.s.w. Es wird uns schwer, wenn wir uns irgend etwas als ganz vollendet, oder als ganz vergangen denken wollen, weil die Folge der Dinge in der Welt einen so festen Zusammenhang hat, wie die Glieder einer Kette, wo sich immer eins in das andre schließt, und wo man sich also nicht gut eins ohne das andre denken kann. So muͤssen sich unsre Vorstellungen von dem Entferntern auch an den Vorstellungen von dem Naͤhern und Gegenwaͤrtigen festhalten, wenn die Kette unsrer Gedanken nicht zerreissen soll. Jn unsrer Seele verdraͤngt ein Bild nicht ploͤtzlich das andere, sondern schiebt sich ihm allmaͤlig vor, und fuͤgt sich zugleich an dasselbe hinan. Weil es nun wegen des naͤhern Zusammenhanges der aufeinander folgenden Dinge am allernatuͤrlichsten ist, sich das Vergangne nicht als vollendet, sondern in Ansehung desjenigen, was darauf folgt, noch als fortdaurend zu denken, so bezeichnet unsre Sprache die Vergangenheit auch bloß auf diese Art unmittelbar. Wollen wir uns aber dem ohngeachtet das Vergangne als ganz vollendet denken, so muͤssen wir <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <div n="2"> <pb facs="#f0126" n="124"/><lb/> <p>Allein wenn ich z.B. sage, <hi rendition="#b">ich sang,</hi> so denke ich mir die Handlung meines Singens, als vergangen, und doch als <hi rendition="#b">unvollendet;</hi> ich stelle mir vor, daß sie noch <hi rendition="#b">fortdauerte,</hi> indeß etwas anders anging, als, <hi rendition="#b">ich sang ein troͤstend Lied, da verschwand mein Kummer,</hi> u.s.w. </p> <p>Es wird uns schwer, wenn wir uns irgend etwas als <hi rendition="#b"> ganz vollendet,</hi> oder als <hi rendition="#b">ganz vergangen</hi> denken wollen, weil die Folge der Dinge in der Welt einen so festen Zusammenhang hat, wie die Glieder einer Kette, wo sich immer eins in das andre schließt, und wo man sich also nicht gut eins ohne das andre denken kann. </p> <p>So muͤssen sich unsre Vorstellungen von dem Entferntern auch an den Vorstellungen von dem Naͤhern und Gegenwaͤrtigen festhalten, wenn die Kette unsrer Gedanken nicht zerreissen soll. </p> <p>Jn unsrer Seele verdraͤngt ein Bild nicht ploͤtzlich das andere, sondern schiebt sich ihm allmaͤlig vor, und fuͤgt sich zugleich an dasselbe hinan. </p> <p>Weil es nun wegen des naͤhern Zusammenhanges der aufeinander folgenden Dinge am allernatuͤrlichsten ist, sich das Vergangne <hi rendition="#b">nicht als vollendet,</hi> sondern in Ansehung desjenigen, was darauf folgt, noch als fortdaurend zu denken, so bezeichnet unsre Sprache die Vergangenheit auch bloß auf diese Art <hi rendition="#b">unmittelbar.</hi> </p> <p>Wollen wir uns aber dem ohngeachtet das Vergangne als <hi rendition="#b">ganz vollendet</hi> denken, so muͤssen wir<lb/></p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [124/0126]
Allein wenn ich z.B. sage, ich sang, so denke ich mir die Handlung meines Singens, als vergangen, und doch als unvollendet; ich stelle mir vor, daß sie noch fortdauerte, indeß etwas anders anging, als, ich sang ein troͤstend Lied, da verschwand mein Kummer, u.s.w.
Es wird uns schwer, wenn wir uns irgend etwas als ganz vollendet, oder als ganz vergangen denken wollen, weil die Folge der Dinge in der Welt einen so festen Zusammenhang hat, wie die Glieder einer Kette, wo sich immer eins in das andre schließt, und wo man sich also nicht gut eins ohne das andre denken kann.
So muͤssen sich unsre Vorstellungen von dem Entferntern auch an den Vorstellungen von dem Naͤhern und Gegenwaͤrtigen festhalten, wenn die Kette unsrer Gedanken nicht zerreissen soll.
Jn unsrer Seele verdraͤngt ein Bild nicht ploͤtzlich das andere, sondern schiebt sich ihm allmaͤlig vor, und fuͤgt sich zugleich an dasselbe hinan.
Weil es nun wegen des naͤhern Zusammenhanges der aufeinander folgenden Dinge am allernatuͤrlichsten ist, sich das Vergangne nicht als vollendet, sondern in Ansehung desjenigen, was darauf folgt, noch als fortdaurend zu denken, so bezeichnet unsre Sprache die Vergangenheit auch bloß auf diese Art unmittelbar.
Wollen wir uns aber dem ohngeachtet das Vergangne als ganz vollendet denken, so muͤssen wir
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| Zitationshilfe: | Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 2, St. 1. Berlin, 1784, S. 124. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_erfahrungsseelenkunde0201_1784/126>, abgerufen am 25.11.2024. |
