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Moritz, Karl Philipp: Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 1, St. 1. Berlin, 1783.

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er seinen Bruder, ihm etwas Wein zu verschaffen:
dieser eilte, um selbst den allerbesten zu hohlen.
Man gab ihm erst einen Löffel voll zu kosten; allein
er wiederte ihn auf der Zunge, und er konnte kei-
nen Tropfen davon trinken.

Der Arzt zog darauf den Bruder bei Seite,
und sagte ihm, daß nun eben, da sich der Kranke
so augenscheinlich erhohlt zu haben schiene, gar keine
Hoffnung mehr übrig, und der kalte Brand in den
Eingeweiden sey. Dieser faßte sich nun so viel wie
möglich, um die Beklemmung seines Herzens nicht
merken zu lassen, und blieb bei dem Bette seines
sterbenden Bruders, dessen schon kalt werdende
Hand er in der seinigen noch zu erwärmen suchte.

Nun beklagte er sich stark über Frost an den
Füssen. Sein Bruder rieb sie ihm eine Weile, aber
sie erkälteten ihm zwischen den Händen. Der Kranke
bat darauf seinen Bruder, ihn aufzuheben, dieser
konnte es aber nicht allein mehr, und sagte: Du
bist mir zu schwer, Bruder, ich muß jemanden zu
Hülfe rufen. Worauf er antwortete: bald werde
ich noch schwerer werden.

Gegen zehn Uhr hörte er auf zu sprechen,
drückte aber immer noch seines Bruders Hand,
und sahe ihn heiter und lächelnd an. Machte
auch Bewegungen mit dem Haupte, als ob er

andäch-

er seinen Bruder, ihm etwas Wein zu verschaffen:
dieser eilte, um selbst den allerbesten zu hohlen.
Man gab ihm erst einen Loͤffel voll zu kosten; allein
er wiederte ihn auf der Zunge, und er konnte kei-
nen Tropfen davon trinken.

Der Arzt zog darauf den Bruder bei Seite,
und sagte ihm, daß nun eben, da sich der Kranke
so augenscheinlich erhohlt zu haben schiene, gar keine
Hoffnung mehr uͤbrig, und der kalte Brand in den
Eingeweiden sey. Dieser faßte sich nun so viel wie
moͤglich, um die Beklemmung seines Herzens nicht
merken zu lassen, und blieb bei dem Bette seines
sterbenden Bruders, dessen schon kalt werdende
Hand er in der seinigen noch zu erwaͤrmen suchte.

Nun beklagte er sich stark uͤber Frost an den
Fuͤssen. Sein Bruder rieb sie ihm eine Weile, aber
sie erkaͤlteten ihm zwischen den Haͤnden. Der Kranke
bat darauf seinen Bruder, ihn aufzuheben, dieser
konnte es aber nicht allein mehr, und sagte: Du
bist mir zu schwer, Bruder, ich muß jemanden zu
Huͤlfe rufen. Worauf er antwortete: bald werde
ich noch schwerer werden.

Gegen zehn Uhr hoͤrte er auf zu sprechen,
druͤckte aber immer noch seines Bruders Hand,
und sahe ihn heiter und laͤchelnd an. Machte
auch Bewegungen mit dem Haupte, als ob er

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[63/0067] er seinen Bruder, ihm etwas Wein zu verschaffen: dieser eilte, um selbst den allerbesten zu hohlen. Man gab ihm erst einen Loͤffel voll zu kosten; allein er wiederte ihn auf der Zunge, und er konnte kei- nen Tropfen davon trinken. Der Arzt zog darauf den Bruder bei Seite, und sagte ihm, daß nun eben, da sich der Kranke so augenscheinlich erhohlt zu haben schiene, gar keine Hoffnung mehr uͤbrig, und der kalte Brand in den Eingeweiden sey. Dieser faßte sich nun so viel wie moͤglich, um die Beklemmung seines Herzens nicht merken zu lassen, und blieb bei dem Bette seines sterbenden Bruders, dessen schon kalt werdende Hand er in der seinigen noch zu erwaͤrmen suchte. Nun beklagte er sich stark uͤber Frost an den Fuͤssen. Sein Bruder rieb sie ihm eine Weile, aber sie erkaͤlteten ihm zwischen den Haͤnden. Der Kranke bat darauf seinen Bruder, ihn aufzuheben, dieser konnte es aber nicht allein mehr, und sagte: Du bist mir zu schwer, Bruder, ich muß jemanden zu Huͤlfe rufen. Worauf er antwortete: bald werde ich noch schwerer werden. Gegen zehn Uhr hoͤrte er auf zu sprechen, druͤckte aber immer noch seines Bruders Hand, und sahe ihn heiter und laͤchelnd an. Machte auch Bewegungen mit dem Haupte, als ob er andaͤch-

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Zitationshilfe: Moritz, Karl Philipp: Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 1, St. 1. Berlin, 1783, S. 63. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_erfahrungsseelenkunde01_1783/67>, abgerufen am 27.11.2024.