Sie wandeln vor meinen Blicken vorüber, und ihr Bild drückt sich
tief in meine schwermuths- volle Seele, die Farbe der Jugend ist von ihren
Wan- gen verschwunden -- aus dem trüben Auge blickt keine
Kühnheit, keine Entschlossenheit zu edlen Tha- ten mehr hervor.
Jch will mein Antlitz verbergen, und weinen, daß der Mensch so entstellt ist -- daß
von seiner frühesten Jugend an das Gift in seine Adern
schleicht, welches den Keim zu edlen Thaten in ihm erstickt, seine Nerven
erschlafft, und ihn unter das Joch der Sklaverei darnieder drückt.
Klagen will ich, daß der Mensch sich nicht mehr unterscheidet, von dem, was ihn
umgiebt; daß der blitzende Edelgestein ganz in Blei gehüllt
ist, welches keinen einzigen seiner Strahlen mehr durch- schimmern
läßt -- daß auch ich Weinender und Klagender den Werth der Menschheit so
lange ver- kannt habe, und vielleicht noch verkenne, und nach einem eitlen
Blendwerk trachte, das vor mir flie- het, und immer meine sehnlichste Erwartung
täuscht.
Bin ich besser, als meine Brüder, daß ich sie beweine? -- Spare deine
Thränen für deinen eig- nen Kummer, und für dein eignes
Weh! meinest du, dein Herz sey ganz rein von Verstellung, und deine Seele
ganz rein von Arglist? -- o fließt ihr Thränen, und wischt diese Flecken
meiner Seele ab, wenn ihr könnt!
M.
Aus
Sie wandeln vor meinen Blicken voruͤber, und ihr Bild druͤckt sich
tief in meine schwermuths- volle Seele, die Farbe der Jugend ist von ihren
Wan- gen verschwunden — aus dem truͤben Auge blickt keine
Kuͤhnheit, keine Entschlossenheit zu edlen Tha- ten mehr hervor.
Jch will mein Antlitz verbergen, und weinen, daß der Mensch so entstellt ist — daß
von seiner fruͤhesten Jugend an das Gift in seine Adern
schleicht, welches den Keim zu edlen Thaten in ihm erstickt, seine Nerven
erschlafft, und ihn unter das Joch der Sklaverei darnieder druͤckt.
Klagen will ich, daß der Mensch sich nicht mehr unterscheidet, von dem, was ihn
umgiebt; daß der blitzende Edelgestein ganz in Blei gehuͤllt
ist, welches keinen einzigen seiner Strahlen mehr durch- schimmern
laͤßt — daß auch ich Weinender und Klagender den Werth der Menschheit so
lange ver- kannt habe, und vielleicht noch verkenne, und nach einem eitlen
Blendwerk trachte, das vor mir flie- het, und immer meine sehnlichste Erwartung
taͤuscht.
Bin ich besser, als meine Bruͤder, daß ich sie beweine? — Spare deine
Thraͤnen fuͤr deinen eig- nen Kummer, und fuͤr dein eignes
Weh! meinest du, dein Herz sey ganz rein von Verstellung, und deine Seele
ganz rein von Arglist? — o fließt ihr Thraͤnen, und wischt diese Flecken
meiner Seele ab, wenn ihr koͤnnt!
M.
Aus
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Sie wandeln vor meinen Blicken voruͤber,
und ihr Bild druͤckt sich tief in meine schwermuths-
volle Seele, die Farbe der Jugend ist von ihren Wan-
gen verschwunden — aus dem truͤben Auge blickt
keine Kuͤhnheit, keine Entschlossenheit zu edlen Tha-
ten mehr hervor.
Jch will mein Antlitz verbergen, und weinen,
daß der Mensch so entstellt ist — daß von seiner
fruͤhesten Jugend an das Gift in seine Adern schleicht,
welches den Keim zu edlen Thaten in ihm erstickt,
seine Nerven erschlafft, und ihn unter das Joch
der Sklaverei darnieder druͤckt.
Klagen will ich, daß der Mensch sich nicht
mehr unterscheidet, von dem, was ihn umgiebt;
daß der blitzende Edelgestein ganz in Blei gehuͤllt ist,
welches keinen einzigen seiner Strahlen mehr durch-
schimmern laͤßt — daß auch ich Weinender und
Klagender den Werth der Menschheit so lange ver-
kannt habe, und vielleicht noch verkenne, und nach
einem eitlen Blendwerk trachte, das vor mir flie-
het, und immer meine sehnlichste Erwartung taͤuscht.
Bin ich besser, als meine Bruͤder, daß ich sie
beweine? — Spare deine Thraͤnen fuͤr deinen eig-
nen Kummer, und fuͤr dein eignes Weh! meinest
du, dein Herz sey ganz rein von Verstellung, und
deine Seele ganz rein von Arglist? — o fließt ihr
Thraͤnen, und wischt diese Flecken meiner Seele ab,
wenn ihr koͤnnt!
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Die Majuskel I/J wurde nicht nach Lautwert transkribiert.
Moritz, Karl Philipp: Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 1, St. 1. Berlin, 1783, S. 115. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_erfahrungsseelenkunde01_1783/119>, abgerufen am 17.02.2025.
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