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Moritz, Karl Philipp: Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 1, St. 1. Berlin, 1783.

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gleichsam als ob dieselben gegenwärtig mein gan-
zes Jch
ausmachten. -- So wenig wie wir nun
einen andern freuen, das heißt, uns in seine Em-
pfindung der Freude verwandeln können, eben so
wenig können wir auch jemanden, wie uns selber
schämen, oder so unmittelbar, wie die Scham
selber auf ihn wirken. Alles, was wir thun kön-
nen, ist, daß wir ihn beschämen, oder solche Ge-
danken in seiner Seele hervorbringen, deren Ver-
hältniß mit denen, die schon darinn sind, Scham
heißt. Wenn wir mehr thun wollen, so müssen
wir uns ganz in ihn hineindenken, daher rührt
vermuthlich der bedeutungsvolle Ausdruck, sich in
der Seele eines andern schämen.

Daß wir unser Jch an die Stelle unsrer je-
desmaligen lebhafteren Gedankenreihe setzen, schei-
net auch sehr deutlich in folgenden gewöhnlichen Aus-
drücken zu liegen: ich freuete mich schon in mei-
nen Gedanken
darauf, ich wunderte mich in mei-
nen Gedanken
darüber, u. s. w. -- wundern
ist
aber ebenfalls ein Verhältniß einer Reihe von
Vorstellungen, die erst in meine Seele kömmt,
zu dem ganzen Zusammenhang derer, die schon dar-
inn sind, wie in folgender Darstellung von dem
Ausdruck, es wundert mich, daß ich einen
Wagen rasseln höre.


es

gleichsam als ob dieselben gegenwaͤrtig mein gan-
zes Jch
ausmachten. — So wenig wie wir nun
einen andern freuen, das heißt, uns in seine Em-
pfindung der Freude verwandeln koͤnnen, eben so
wenig koͤnnen wir auch jemanden, wie uns selber
schaͤmen, oder so unmittelbar, wie die Scham
selber auf ihn wirken. Alles, was wir thun koͤn-
nen, ist, daß wir ihn beschaͤmen, oder solche Ge-
danken in seiner Seele hervorbringen, deren Ver-
haͤltniß mit denen, die schon darinn sind, Scham
heißt. Wenn wir mehr thun wollen, so muͤssen
wir uns ganz in ihn hineindenken, daher ruͤhrt
vermuthlich der bedeutungsvolle Ausdruck, sich in
der Seele eines andern schaͤmen.

Daß wir unser Jch an die Stelle unsrer je-
desmaligen lebhafteren Gedankenreihe setzen, schei-
net auch sehr deutlich in folgenden gewoͤhnlichen Aus-
druͤcken zu liegen: ich freuete mich schon in mei-
nen Gedanken
darauf, ich wunderte mich in mei-
nen Gedanken
daruͤber, u. s. w. — wundern
ist
aber ebenfalls ein Verhaͤltniß einer Reihe von
Vorstellungen, die erst in meine Seele koͤmmt,
zu dem ganzen Zusammenhang derer, die schon dar-
inn sind, wie in folgender Darstellung von dem
Ausdruck, es wundert mich, daß ich einen
Wagen rasseln hoͤre.


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[102/0106] gleichsam als ob dieselben gegenwaͤrtig mein gan- zes Jch ausmachten. — So wenig wie wir nun einen andern freuen, das heißt, uns in seine Em- pfindung der Freude verwandeln koͤnnen, eben so wenig koͤnnen wir auch jemanden, wie uns selber schaͤmen, oder so unmittelbar, wie die Scham selber auf ihn wirken. Alles, was wir thun koͤn- nen, ist, daß wir ihn beschaͤmen, oder solche Ge- danken in seiner Seele hervorbringen, deren Ver- haͤltniß mit denen, die schon darinn sind, Scham heißt. Wenn wir mehr thun wollen, so muͤssen wir uns ganz in ihn hineindenken, daher ruͤhrt vermuthlich der bedeutungsvolle Ausdruck, sich in der Seele eines andern schaͤmen. Daß wir unser Jch an die Stelle unsrer je- desmaligen lebhafteren Gedankenreihe setzen, schei- net auch sehr deutlich in folgenden gewoͤhnlichen Aus- druͤcken zu liegen: ich freuete mich schon in mei- nen Gedanken darauf, ich wunderte mich in mei- nen Gedanken daruͤber, u. s. w. — wundern ist aber ebenfalls ein Verhaͤltniß einer Reihe von Vorstellungen, die erst in meine Seele koͤmmt, zu dem ganzen Zusammenhang derer, die schon dar- inn sind, wie in folgender Darstellung von dem Ausdruck, es wundert mich, daß ich einen Wagen rasseln hoͤre. es

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Zitationshilfe: Moritz, Karl Philipp: Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 1, St. 1. Berlin, 1783, S. 102. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_erfahrungsseelenkunde01_1783/106>, abgerufen am 27.11.2024.