Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 1, St. 3. Berlin, 1783.
"Vierzehn Tage leb' ich nun in Halle, doch nein, in Halle nicht, sondern auf dem Waisenhause! -- O ich habe schon vier Briefe an Sie angefangen, liebster Herr Professor, und alle hab ich sie zerrissen. Es war Lug und Trug -- ich wollte recht vergnügt, ich wollte zufrieden schreiben, aber ich kann nicht, ich kann mich nicht verstellen, und vor wem soll ich mein gepreßtes und gedrücktes Herz sonst ausschütten, wenn ich es nicht vor Jhnen thun darf? -- O wie sind meine Vorstellungen getäuscht -- dies Hauß scheint für Diebe und Mörder bestimmt zu seyn.*) -- Doch hören *) Hier lasse ich eine ganze Stelle, die seine Unzufriedenheit in den heftigsten Ausdrücken an den Tag legt, weg. Man glaube ja nicht, daß ich durch die Bekanntmachung dieses Briefes eines traurigen aufgebrachten Jünglings dieser grossen Anstalt einen Streich versetzen will. Wenige denken wie Robert, und für diese Wenigen ist freilich das Waisenhauß nicht.
»Vierzehn Tage leb' ich nun in Halle, doch nein, in Halle nicht, sondern auf dem Waisenhause! ― O ich habe schon vier Briefe an Sie angefangen, liebster Herr Professor, und alle hab ich sie zerrissen. Es war Lug und Trug ― ich wollte recht vergnuͤgt, ich wollte zufrieden schreiben, aber ich kann nicht, ich kann mich nicht verstellen, und vor wem soll ich mein gepreßtes und gedruͤcktes Herz sonst ausschuͤtten, wenn ich es nicht vor Jhnen thun darf? ― O wie sind meine Vorstellungen getaͤuscht ― dies Hauß scheint fuͤr Diebe und Moͤrder bestimmt zu seyn.*) ― Doch hoͤren *) Hier lasse ich eine ganze Stelle, die seine Unzufriedenheit in den heftigsten Ausdruͤcken an den Tag legt, weg. Man glaube ja nicht, daß ich durch die Bekanntmachung dieses Briefes eines traurigen aufgebrachten Juͤnglings dieser grossen Anstalt einen Streich versetzen will. Wenige denken wie Robert, und fuͤr diese Wenigen ist freilich das Waisenhauß nicht.
<TEI> <text> <body> <div> <div> <p><pb facs="#f0012" n="8"/><lb/> vortreflichste Stimmung als er in Halle ankam. Sich das Wohlgefallen seiner Mutter, die Zufriedenheit des Professor T., die Liebe seiner Lehrer und die Achtung seiner Mitschuͤler zu erwerben, wollte er alle seine Kraͤfte anwenden. Ein Brief von seinem Verwandten dem Herrn Pastor L. sollte ihn bei dem Direktor des Waisenhauses dem Doktor Knapp einfuͤhren. Die vaͤterliche Behandlung dieses wuͤrdigen Mannes gefiel ihm ausserordentlich, und er schenkte ihm in dem ersten Augenblicke sein ganzes Zutrauen. Ein Auszug aus seinem Briefe an den Professor T. mag seine Ankunft auf dem Waisenhause beschreiben: </p> <p>»Vierzehn Tage leb' ich nun in Halle, doch nein, in Halle nicht, sondern auf dem Waisenhause! ― O ich habe schon vier Briefe an Sie angefangen, liebster Herr Professor, und alle hab ich sie zerrissen. Es war Lug und Trug ― ich wollte recht vergnuͤgt, ich wollte zufrieden schreiben, aber ich kann nicht, ich kann mich nicht verstellen, und vor wem soll ich mein gepreßtes und gedruͤcktes Herz sonst ausschuͤtten, wenn ich es nicht vor Jhnen thun darf? ― O wie sind meine Vorstellungen getaͤuscht ― dies Hauß scheint fuͤr Diebe und Moͤrder bestimmt zu seyn.*)<note place="foot"><p>*) Hier lasse ich eine ganze Stelle, die seine Unzufriedenheit in den heftigsten Ausdruͤcken an den Tag legt, weg. Man glaube ja nicht, daß ich durch die Bekanntmachung dieses Briefes eines traurigen aufgebrachten Juͤnglings dieser grossen Anstalt einen Streich versetzen will. Wenige denken wie Robert, und fuͤr diese Wenigen ist freilich das Waisenhauß nicht.</p></note> ― Doch hoͤren<lb/></p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [8/0012]
vortreflichste Stimmung als er in Halle ankam. Sich das Wohlgefallen seiner Mutter, die Zufriedenheit des Professor T., die Liebe seiner Lehrer und die Achtung seiner Mitschuͤler zu erwerben, wollte er alle seine Kraͤfte anwenden. Ein Brief von seinem Verwandten dem Herrn Pastor L. sollte ihn bei dem Direktor des Waisenhauses dem Doktor Knapp einfuͤhren. Die vaͤterliche Behandlung dieses wuͤrdigen Mannes gefiel ihm ausserordentlich, und er schenkte ihm in dem ersten Augenblicke sein ganzes Zutrauen. Ein Auszug aus seinem Briefe an den Professor T. mag seine Ankunft auf dem Waisenhause beschreiben:
»Vierzehn Tage leb' ich nun in Halle, doch nein, in Halle nicht, sondern auf dem Waisenhause! ― O ich habe schon vier Briefe an Sie angefangen, liebster Herr Professor, und alle hab ich sie zerrissen. Es war Lug und Trug ― ich wollte recht vergnuͤgt, ich wollte zufrieden schreiben, aber ich kann nicht, ich kann mich nicht verstellen, und vor wem soll ich mein gepreßtes und gedruͤcktes Herz sonst ausschuͤtten, wenn ich es nicht vor Jhnen thun darf? ― O wie sind meine Vorstellungen getaͤuscht ― dies Hauß scheint fuͤr Diebe und Moͤrder bestimmt zu seyn.*) ― Doch hoͤren
*) Hier lasse ich eine ganze Stelle, die seine Unzufriedenheit in den heftigsten Ausdruͤcken an den Tag legt, weg. Man glaube ja nicht, daß ich durch die Bekanntmachung dieses Briefes eines traurigen aufgebrachten Juͤnglings dieser grossen Anstalt einen Streich versetzen will. Wenige denken wie Robert, und fuͤr diese Wenigen ist freilich das Waisenhauß nicht.
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools
|
URL zu diesem Werk: | https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_erfahrungsseelenkunde0103_1783 |
URL zu dieser Seite: | https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_erfahrungsseelenkunde0103_1783/12 |
Zitationshilfe: | Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 1, St. 3. Berlin, 1783, S. 8. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_erfahrungsseelenkunde0103_1783/12>, abgerufen am 16.07.2024. |